- 1520 Anno Maris – Kalkutta -
Brianna fischte nach dem Eiswürfel in ihrem exotisch anmutenden Getränk und ließ ihn über ihr gesamtes Dekolleté gleiten. Als das kalte Eis ihre nassgeschwitzte Haut berührte, musste sie ein wollüstiges Stöhnen unterdrücken. Sie beugte sich vor und ihre meergrauen Augen suchten nach weiteren Würfeln, die ihre Hitzewallungen für einen Moment mildern würden, aber enttäuscht stellte sie fest, dass die Hitze bereits alle weiteren dahingerafft hatte und sie sich mit den anderen Flüssigkeiten ihres Cocktails vermischt hatten. Ein wenig enttäuscht griff sie zu der Ananasscheibe, die am Rand des Glases steckte. Die Süße auf ihren Lippen und ihrer Zunge breitete sich wie ein Lauffeuer auf und die Rothaarige hatte das Gefühl, selten so etwas Köstliches gegessen zu haben. Sie schlug die nackten Beine übereinander, auch wenn die Haut schon nach wenigen Sekunden zusammenklebte, als hätte man flüssiges Harz dazwischen gegossen. Sie warf ihre rote Mähne nach hinten und dankte dem kühlenden Luftzug, der daraufhin einen kurzen Moment über ihren Rücken streichelte.
„Darf ich Ihnen noch etwas bringen, Miss?“, beugte sich der hagere Mann mittleren Alters zu ihr vor, der in seinen luftigen Gewändern und seiner Stoffmütze kaum zu schwitzen schien. Zumindest zeigte sich auf der Haut, die dunklem Karamell glich, keinerlei Zeichen der Tortur, die auf Kalkutta in Form von Temperaturen jenseits der dreißig Grad und einer Luftfeuchtigkeit in astronomischer Höhe herrschte. Sie lächelte ihm freudig zu und schüttelte den Kopf, wobei sie merkte, dass ihr das feuchte rote Haar bereits im Nacken klebte. Schnell griff sie zu einer der Servietten und bereitete dem unangenehmen Gefühl ein Ende, indem sie sich den Nacken abwischte, während der Kellner sich federnden Gangs entfernte.
„Warum habe ich dich noch einmal begleitet?“, klang eine gequälte Stimme zu ihren Ohren und sie musste sich ein wenig zur Seite neigen, um den blonden Fuchs zu erkennen, der sich in den Schatten unterhalb des Tisches gezwängt hatte und die rosarote Zunge aus dem Maul hängen ließ.
„Ich befürchte, weil du mich so unglaublich gern hast, oder du ein Idiot bist!“, erwiderte Brianna kühl, die ihren restlichen Cocktail nun in einem Zug leerte und aus ihrer ledernen Handtasche nach ein paar Münzen kramte.
„Dann war es wohl meine eigene Dummheit“, brummte der Fuchs unter einem lauten Seufzen, während die Rothaarige die Münzen auf den Tisch rieseln ließ. Sie bedachte den Kellner mit einem großzügigen Trinkgeld, denn sie wusste, dass Kalkutta und seine Bevölkerung nicht gerade zu den reichsten Gegenden der Grandline gehörten. Brianna verkniff sich den Kommentar, dass niemanden den Fuchs zwang, seinen Pelzmantel zu tragen, aber sie wusste, dass dies ein heikles Thema war und sich der Junge, den sie vor einigen Jahren aufgelesen und unter ihre Fittiche genommen hatte, lieber das Gewand trug, welches ihm der Teufel geschenkt hatte, als die menschliche Haut, mit der seine Mutter ihn geboren hatte.
„Vor allem waren wir doch erst an so einem höllisch heißen Ort“, moserte Kyu weiter, während sie sich aus dem Kaffee entfernten und sich unter die bunte Menge der Stadt zwängten.
„Peñón de la Roja war im Gegensatz zu diesem Ort aber eher zu vergleichen mit einem lauen Frühlingsmorgen“, konterte Brianna und strich sich eine Strähne hinter das Ohr.
Die Hitze schwirrte durch die verschlungenen Straßen der größten Stadt der Sommerinsel, wie ein lästiges Insekt, das sich nicht vertreiben ließ, ehe es jeden Bewohner eines Hauses mit seiner Anwesenheit erfreut hatte. Der Boden war rissig und seine Furchen zogen sich in unregelmäßigen Mustern durch das Erdreich, sehnsüchtig auf ein paar Tropfen Wasser wartend, welche diese Jahreszeit üblich zu Litern bereitstellte. Brianna fühlte sich, als hätte man ihr ein nasses, warmes Handtuch ins Gesicht geschlagen, als sie die Hand über die Augenbrauen hob und ihre meergrauen Augen die schwarzen Zeiger der nächsten Turmuhr suchten, welche ihr die Zeit bis zum Treffen mit ihrem Informanten verraten würde. Sie zupfte sich an den Ärmeln des azurblauen, leichten Kleides, welches ihre schlanken Hüften umspielte und fächerte sich überflüssigerweise ein wenig der schwülen, schweren Luft zu.
„Wann wollte Ravi sich denn mit uns treffen?“, sprach der blonde Fuchs, der sich in den schmalen Schatten der bunt gestrichenen Häuserwand drückte und ihren Bewegungen aufmerksam gefolgt war.
„Kurz nach Mittag auf dem großen Basar!“, entgegnete Brianna knapp, da ihr aus den Augenwinkeln etwas glitzerndes über den Dächern aufgefallen war, jedoch schien es, sobald sie ihren Blick darauf fokussiert hatte, sofort wieder verschwunden. Vielleicht war es auch nur ein Schweißtropfen gewesen, der sich in ihren langen, schön geschwungenen Wimpern verfangen und das grelle Sonnenlicht gebrochen hatte. Sie schüttelte den Kopf und gemeinsam mit Kyu wandelten sie durch die Gassen Kalkuttas, um zum Basar zu kommen.
~ * ~
Er konnte es nicht glauben! Da hatte sie ihn wohl tatsächlich erspäht, aber was würde das schon ändern? Was würde dieser kurze Augenblick, diese flüchtige Erkenntnis, etwas gesehen zu haben, was man nicht kannte, schon ändern? Brianna Emily Grimm war eine Berühmtheit in den Kreisen der edlen Zunft, die sie teilten, und dennoch war sie zu einfältig, um das große Ganze zu erkennen. Zu erkennen, welche Rolle sie in dieser ganzen Geschichte spielte. Welche Rolle das Blut spielte, welches durch ihre Adern pulsierte und von ihrem naiven Herzen durch ihren Körper gepumpt wurde. Er lehnte den Kopf ein wenig zurück, spürte den nackten Stein durch den Stoff seines Harlekin-Kostüms. Ein exotisch anmutender Vogel landete neben ihm und blickte ihn ungläubig an. Er breitete die Schwingen aus, deren Federn in allerlei Farben fluoreszierten und klackerte mit den scharfen Kanten seines Schnabels aufeinander. Doch ehe ein einziger Ton aus seiner Kehle entweichen konnte, hatte das geworfene Messer bereits seinen Kopf abgetrennt. Der Körper verharrte einen kurzen Moment in einer Mischung aus erschrockener Starre und tödlicher Erhabenheit, ehe der gefiederte Rumpf in sich zusammensackte. Als hätte erst ein Pulsschlag das Gefieder in seiner Farbenpracht zum Leuchten gebracht, schien auch das Farbenspektrum zu weichen, während das dunkle Blut über die heißen Schindeln des Daches quoll, wo es augenblicklich vertrocknete.
Er legte den Kopf schief, wobei die zweigeteilte, kalkweiße Maske ein noch paradoxeres Bild als sonst zeichnete und seufzte schwer. Jede Schönheit ist vergänglich. Ein Motto, welches seine Familie schon immer gelebt hatte. Mit federnden Schritten nahm er Anlauf und sprang von Dach zu Dach, während die leuchtenden Augen unter der Maske immer wieder auf die Straße blickten, um die Spur der Rothaarigen nicht aus den Augen zu verlieren.
~ Auf dem Basar ~
Ein Meer aus Farben und ein Gewirr aus Stimmen breiteten sich vor dem Angesicht der beiden Besucher des großen Basars aus. Kyu und Brianna konnten nicht anders, als mit geöffnetem Mund vor dem eckigen Platz zu stehen und das Schauspiel zu genießen, welches sich ihnen darbot. Vor ihnen türmten sich exotische Früchte und kostbare Gewürze zu beeindruckenden Pyramiden aus leuchtendem Rot, Gelb und Grün. Briannas meergrauer Blick schweifte über die geometrischen Gebilde aus Datteln, Kirschen, Safran und getrocknetem Chili.
„Wollen sie eine probieren?“, sprach sie einer der Händler an, wobei er sein lückenhaftes Lächeln offenbarte. Brianna blinzelte verdutzt, ergriff dann aber eine der violetten Feigen, die ihr angeboten wurden. Der süßliche Geschmack der Frucht zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen und liebevoll ging sie in die Knie, um Kyu den Rest der Feige anzubieten, der sich freudig darüber hermachte. Schlendernd und mit einander scherzend passierten sie den ganzen Basar, wobei sie sich nicht entscheiden konnten, ob sie die Waren oder die strahlenden Gewänder der Händler beeindruckender fanden. Seltsamerweise schien ihnen die Faszination, die ihnen wie eine überwältigende Woge unter den spärlich überdachten Markständen entgegen schwappte, jegliches Gefühl für Zeit und auch für die Hitze zu nehmen, denn als sie sich umdrehten, schlugen die Glocken der hohen Turmuhr zur Mittagsstunde. Als hätte ihr Informant den letzten Ton abgewartet, stieg Brianna der markante Geruch nach Ziegenmilch und süßlichem Tabak in die Nase. Sie drehte sich herum, wobei die Luft kühlend ihre nackten Beine umspielte und blickte in die warmen, beinahe schwarzen Augen Ravi Chakrabartis, der nicht lange zögerte und die Rothaarige freudig in seine Arme schloss.
„Es ist mir immer wieder eine Freude, Fräulein Grimm!“, sprudelte es strahlend aus ihm heraus, wobei sein Blick augenblicklich auf den blonden Fuchs fiel, der um ihre zarten Knöchel scharwenzelte.
„Und Sie haben ihren getreuen Fuchsfreund ebenfalls mitgebracht? Was für eine Freude!“
Ravi, dessen Haupt von einem Turban bedeckt war, dessen stabile Stoffkonstruktion von einem rubinroten Edelstein zusammengehalten wurde, ging in die Hocke und kraulte Kyu hinter den Ohren. Jener genoss die Berührung einen kurzen Augenblick, ehe Ravi sich erhob, die Schultern etwas angespannt straffte und Brianna eindringlich musterte.
„Wir sollten die Unterhaltung über den Grund Ihres Kommens lieber an einen privateren Ort verlegen!“
~ * ~
Das kleine Café an der Straßenecke, welches Ravi offenbar gehörte, war vollkommen leergefegt und als Kyu bereits die Frage stellen wollte, was es damit auf sich hatte, erkannte er aus den Augenwinkeln das Geschlossen-Schild, welches monoton an der Tür hin und her schaukelte. Sie ließen sich an einen kleinen Tisch an einem Fenster sinken, die alle mit löchrigen Teppichen verhangen waren, die erstaunlicherweise die prasselnde Mittagshitze fern hielten und das Café in ein angenehm-schummriges Licht tauchten.
Das dampfende Getränk aus aufgebrühten Teeblättern erzeugte bei den beiden Schatzjägerin nur einen skeptischen Blick, den Ravi mit einem herzlichen Lachen konterkarierte.
„Man merkt, dass ihr euch nicht oft auf Kalkutta befindet. Das beste Getränk, um der Hitze zu trotzen, ist ein heiß aufgebrühter Tee!“
Kyu starrte ihn immer noch ungläubig an, aber Brianna ergriff schmunzelnd die hübsche Porzellantasse und setzte sie an ihre Lippen. Dennoch konnte der Fuchs an ihrer Miene den Widerwillen erkennen, der sich auch in ihm aufbäumte, wenn er daran dachte, bei den siedenden Temperaturen sogar noch heißere Flüssigkeit zu trinken. Sein Gedankengang wurde bei den Worten ihres Gastgebers allerdings jäh unterbrochen.
„Wie kann ich euch behilflich sein? Ich denke nicht, dass ihr für einen Urlaub hierhergekommen seid!“
Briannas Lächeln erstarb bei den Worten ihres Bekannten, die etwas Gehetztes an sich hatten. Sie war sich im ersten Moment nicht sicher gewesen, ob sie sich dies nur eingebildet hatte, aber das schummrige Licht des Cafés offenbarte die tiefen Falten, die sich in Ravis fahles Gesicht gebrannt hatten. Der junge Schafhirte, den sie vor acht Jahren bei ihrem zweiten Auftrag als Schatzjägerin überhaupt kennengelernt hatte, war nicht wiederzuerkennen. Die Zeit hatte ihn verändert und ihren Stempel unerbittlich auf seinen Körper gedrückt. Aber was bildete sie sich schon ein? Was hatten ihr die letzten Jahre alles genommen? Wie hatte die Zeit sie nur geprägt?
„Ähm..also wir sind hier, weil wir eine Figur suchen...“, setzte Kyu an, da ihr Gedankenfluss sie scheinbar so lange in Schweigen gehüllt hatte, dass sich der blonde Fuchs genötigt sah, das Wort zu ergreifen. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, um die nervenden Geister ihrer Erinnerung zu vertreiben, straffte ebenfalls die Schultern und verstärkte den Griff um ihre Porzellantasse.
„Richtig. Wir suchen eine Figur aus Elfenbein. Laut den Information eines Kunstkenners aus Liberty Bourbon ungefähr zweihundert Jahre alt“, übernahm Brianna nun das Gespräch.
„Aus der Dynastie des Großmoguls Shuja?“, erwiderte Ravi und fuhr sich interessiert über die dunklen, spröden Lippen.
„Richtig!“
„Tut mir Leid, über solch eine Figur ist mir nichts bekannt!“, konterte Ravi ein wenig zu heftig, sodass die Rothaarige eine Augenbraue nach oben zog. Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Ravi hielt ihrem Blick stand, aber ein paar feine Schweißperlen legten sich auf seine karamellfarbene Haut, die auf Grund der jahrelangen Tätigkeit auf den Feldern der kalkuttischen Steppe einen dunkleren Ton hatte als bei der hiesigen Stadtbevölkerung.
„Ravi, deine Frau ist Magd der Frau des amtierenden Moguls und zudem eine der größten Kunstliebhaberinnen, die ich kenne. Wenn jemand etwas über besagte Figur weiß oder in Erfahrung bringen könnte, dann du!“
Auch, wenn Brianna in ihre Worte keinerlei Drohung oder Boshaftigkeit gelegt hatte, legte sich ein Schatten auf das Gesicht ihres Bekannten, als hätte sie seiner Frau gerade mit dem Leben gedroht. Seine Hände fingen so stark zu zittern an, dass er die Tasse mit dem mittlerweile abgekühlten Tee umstieß. Erschrocken stand er auf und Brianna griff nach einer der Servietten, um das Umgeschüttete aufzuwischen. Doch da packte Ravi ihr Handgelenk und blickte ihr eindringlich in die Augen.
„Pass auf...er ist hinter...“.
Die Schatzjägerin konnte erst nicht ausmachen, warum Ravi auf einmal innehielt, aber da wurde sie von einem Gewicht nach vorne gezogen und es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass Ravi nach hinten umkippte und seinen Griff um ihr Handgelenk noch nicht gelockert hatte. Sie wurde über den Tisch gezogen und landete unsanft auf dem Körper des Café-Besitzers, der sie mit panisch aufgerissenen Augen anstarrte.
„Ist alles okay?“, wuselte Kyu um sie herum, der ebenfalls noch nicht realisiert hatte, was vor sich ging. Doch in diesem Moment zerriss bereits der Schrei der Rothaarigen die Stille, die sich abrupt von dem Körper wegrollte. Somit konnte auch der Blonde erkennen, was passierte war, denn zwischen den warmen Augen Ravis klaffte ein Loch, aus dem nun ein Rinnsal Blut floss wie aus einer Bergquelle. Seine pechschwarzen Augen wanderten zu den löchrigen Teppichen und auch, wenn Kyu kein Einschussloch ausmachen konnte, so war er sich sicher, dass nun ein weiteres Loch die gemusterten Stoffe zierte.
~ * ~
Er hatte die Armbrust noch immer im Anschlag und seine Augen fixierten das gescheckte Fell des blonden Fuches, der unbewusst zu ihm hinaufblickte. Er lehnte an der Brüstung und schmunzelte. Es wäre ein Leichtes, sein Leben und auch das Leben Briannas zu beenden. Ein kleiner Schuss, der Finger nur ein weiteres Mal am Abzug der hölzernen Armbrust gelegt, aber was würde das für einen Menschen aus ihm machen? Was würden die anderen dazu sagen, wenn er alle ihre Hoffnungen, all ihre Wünsche, aber auch Ängste an diesem Tag beendete? An einem Tag, der begonnen hatte, wie jeder andere. Er vernahm das Rauschen von Blut in seinen Ohren, welches von dem einsetzenden Adrenalin beschleunigt wurde, wie er es jedes Mal empfand, wenn er das Leben eines Menschen in seiner Hand hielt. Bei dem Gedanken an Blut musste er unweigerlich schmunzeln, als hätte sein Körper selbst ihm verboten, das Leben dieser jungen Frau zu beenden. Ein wenig enttäuscht seufzend, klappte er die Armbrust zusammen und vernahm wie eine Frau schluchzend auf die Straße rannte.
~ * ~
„Warte doch, Brianna!“, rief Kyu der Schatzjägerin hinterher, die unter bitteren Tränen das Café verlassen hatte und auf die Straße torkelte. Dabei wäre sie fast in eine Karawane kleinerer Elefanten gerannt, die auf ihren Rücken riesige Konstruktionen aus Holz und Seilen trugen, und dabei Sklaven, Waren und Menschen transportierten. Fluchend scheuchte der Elefantenführer die beiden von der Straße und unter Schock torkelte Brianna durch die Straßen der Stadt, ehe sie in irgendeinem Hauseingang unter Tränen zusammenbrach.
~ In der Gegenwart ~
„Wir haben ein paar Stunden später Ravis Frau getroffen, die ebenso aufgelöst war. Offenbar waren ihre beiden Kinder aus der Schule entführt worden“, schluckte Brianna schwer und fuhr mit dem Finger über die Ränder ihres Rotweinglases, auf denen man die Abdrücke ihrer vollen Lippen noch erkennen konnte. Kol saß mit angewinkelten Beinen neben ihr, hatte den Kopf auf einer Hand abgestützt und bis jetzt schweigend ihren Worten gelauscht.
„Sind sie wieder aufgetaucht?“, fragte er, wobei seine Stimme seltsam belegt klang.
„Die Kinder? Ja. Sie kamen ein paar Stunden nach dem Tod ihres Vaters wieder nach Hause. Sie sagten, dass ein fremder Mann sie mit in den Park zum Spielen genommen hatte“, flüsterte Brianna, die mit den Fingerkuppen ihre Tränendrüsen massierte, um gegen die drohende Flut an salzigen Tränen zu kämpfen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen wollten. „Ravis Tod hat seine Frau gebrochen. Sie war danach nicht mehr dieselbe. Kyu und ich haben sie erst letztes Jahr besucht.“
Kols Berührung irritierte sie im ersten Moment, als er ihr sanft mit dem Handrücken über die nackte Schulter streichelte, aber dann schien die tröstende Berührung ihres langjährigen Freundes die Traurigkeit, die sich im Angesicht der frisch aufgelebten Erinnerungen wieder aufgebaut hatte, ein wenig zu mindern.
„Woher wusstest du dann überhaupt, dass es dieser...wie nanntest du ihn? Harlekin war?!“
„Nachdem wir aus Kalkutta abgereist sind und ich den Kunstsammler aus Water 7 kontaktierte, dass wir den Auftrag nicht zu Ende bringen konnten, entgegnete er mir, dass er die Statue bereits erhalten hatte und der andere Schatzjäger einen Brief für mich hinterlassen hatte. Dort drinnen offenbarte sich der Harlekin als ein langjähriger Bewunderer meiner Arbeit und es täte ihm Leid, wie die Dinge in Kalkutta gelaufen wären, aber er wollte damit nur beweisen, dass jetzt seine Ära beginnen würde und ich mich nicht mit ihm messen könnte....“.
Briannas Stimme bebte bei den Worten leicht und sie stellte das Glas auf den dunklen Holztisch, da sie Angst hatte, dass die Wut, die sie für den Harlekin empfand und die sich in ihr wie ein schwelendes Feuer immer stärker aufbaute, je öfter sie sich den toten Anblick Ravis und gewissermaßen auch seiner Frau vor Augen führte, es zerbersten würde.
„Und kannst du es?“
„Mich mit ihm messen?“
Die Frage verdutzte Brianna einen Augenblick, sodass sie einen Moment ins Leere starrte, um darüber nachzudenken. Als sie antwortete, schwang ein gewisser Stolz in ihre Stimme, welcher sie ebenso in Ekstase wie Schauern versetzte.
„Die letzten zwei Jahre hatten wir öfters Briefkorrespondenz. Die verlief immer einseitig, aber meistens lobte er mich dafür, dass ich einen Auftrag schneller, besser oder effizienter ausgeführt habe...das...war seltsam motivierend und ich hatte das Gefühl, dass ich Ravi’s Tod damit sühnen könnte!“
„Brianna, ich weiß, dass du gerne die Schuld der ganzen Welt auf deine Schultern nimmst, aber ich hoffe, dir ist klar, dass sein Tod nicht deine Schuld war! Du hast den Abzug nicht betätigt, du hast Ravi nicht erpresst und du bist nicht der Harlekin!“, entgegnete Kol mit solcher Vehemenz, dass die Rothaarige sich nicht traute, Widerworte zu geben, auch wenn sie es am liebsten getan hätte. Als Brianna nichts erwiderte, löste sich Kols angespannte Miene zu einem strahlenden Lächeln auf, das seine weißen, perfekten Zähne offenbarte. Er klatschte in die Hände und sprang energiegeladen auf.
„Nachdem ich Aloë ja schon mit ein paar möglichen Adressen versorgt habe und wir sie vorher losgeschickt haben, kommen wir zu deinem Teil der Vereinbarung, okay?“
Brianna blickte zu dem Mann mit dem karamellbraunen Haaren hinauf, der sich durch den lässigen Drei-Tage-Bart fuhr und nickte stumm.
„Du kennst mich ja, Wenn es dich betrifft, bin ich zu allem bereit!“
„Das hört man gerne“, schmunzelte der Kurator und streckte Brianna eine Hand hin, als wollte er sie zum Tanz auffordern.
Genevieve gähnte, aber konnte sich dennoch nicht von den winzigen Buchstaben losreißen, die man handschriftlich vor vielen hundert Jahren auf das Papier gebannt hatte und sie in ihre Welt hinter Tinte und vergilbten Pergament riefen. In Duchess Court kühlten die Temperaturen auch nachts selten unter fünfzehn Grad und eine milde Brise wehte durch das offene Fenster der Bibliothek herein, deren seidene Vorhänge leicht im Wind der mondlosen Nacht tänzelten. Sie hob ihre Hände und mit einer graziösen Bewegung ihrer Finger tänzelte die Gaslampe ein wenig näher, um ihr mehr Licht zu spenden, da ihre Augen bereits zu tränen begonnen hatten. Ihr Busen hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus ihres Atmens, während sie Seite um Seite verschlang. Sie war so in die Geschichte vertieft, dass sie die Anwesenheit der anderen Frau erst bemerkte, als jene ihre Finger über ihre Schulter gleiten ließ.
„Gott! Hast du mich erschreckt, Katerina!!“, fluchte Genevieve, die vor Schreck das Buch zusammengeschlagen und aufgesprungen war. Die schlanke, mittelgroße Frau, die einen langen Ledermantel um ihre schmale, aber weibliche Figur geworfen hatte, zuckte mit den Schultern und zwirbelte ihre schokoladenbraunen Locken um ihren Zeigefinger.
„Ach, Genevieve. Sei doch nicht immer so angespannt“, flötete sie und warf ihr mit den blutroten Lippen einen Luftkuss zu. Die Hexe verschränkte die Arme und trat an das Fenster, um sich von der luftigen Brise kühlen zu lassen. Katerina hatte sich indes in ihren Lehnsessel geworfen, wobei sie ihre schlanken Beine, die von kniehohen, geschnürten Lederstiefeln geziert wurden, baumelnd in die Lüfte streckte.
„Ich wusste gar nicht, dass du heute schon wieder kommen wolltest!“, erwiderte die Dunkelhäutige kurz angebunden und zog ihren purpurroten Morgenmantel ein wenig enger vor der Brust zusammen. Katerina legte den Kopf schief und verzog die vollen Lippen zu einem spielerischen Lächeln.
„Ich habe alles, was ich besorgen sollte und dachte mir, dass es schön wäre, meine alte Freundin ein wenig zu besuchen!“
Bei den Worten wandte die Hexe ihr einen vielsagenden Blick zu, ehe sie ihren Blick wieder über die Gärten des Königspalasts schweifen ließ.
„Ach, Genevieve, jetzt hör doch auf! Du wusstest, dass du irgendwann mal wieder nach Hause kommen musstest! Und jetzt erzähle mir nicht, dass dir diese armseligen Kreaturen auf dieser Insel ans Herz gewachsen sind!“
Genevieve wollte gerade anfangen zu sprechen, aber da hob die Braunhaarige bereits mahnend und gebieterisch den ringbesetzten Finger und brachte sie damit zum Schweigen. „Ich möchte dich daran erinnern, dass du es warst, die diese Leute jahrelang belogen und benutzt hast, um der größeren Sache zu dienen! Dass du deine kleine verquere Idee von Familie und Vermächtnis mit diesem Engelsmädchen verwirklichen wolltest, war ebenfalls dein Wunsch! Du hättest ihr auch dieses Schicksal ersparen können, indem du sie sterben lässt. Das Grimoire hätte uns vollkommen genügt! Zumal verstehe ich gar nicht, warum du deinen Ärger an mir auslässt. Immerhin war es ein Befehl des Lords...und das Wort des Lords ist auch Gesetz! Diesen Eid haben wir uns schon vor vielen, vielen Jahren geschworen!“, sprach sie in einer Mischung aus unumstößlicher Wahrheit, sadistischer Freude und betrübter Verletzung, während sie zu Genevieve wandelte und ihre Arme um ihre Taille schlang. Sie legte ihr Kinn auf ihre Schulter und flüsterte ihr nun fast liebevoll, aber mit einem bedrohlichen Unterton ins Ohr: „Vergiss nie, dass ich dich damals aus deinem Schicksal erlöst habe, als du ein kleines Mädchen warst...verfolgt, gepeinigt und versklavt von denjenigen, die sich über dich und dein Volk erhoben haben. Der Lord gab dir dein Leben und dies war ein Geschenk. Sei dir bewusst, dass er es dir auch wieder nehmen kann!“
Nachdem sie die letzten Worte gesprochen hatte, drückte sie ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, welcher wie ein glühendes Schmiedeeisen brannte. Katerina stolzierte indes durch den Raum, ergriff den Beutel, den sie von ihrer Reise mitgebracht hatte und wollte gerade durch die Tür treten, als Genevieve das Wort ergriff. Auch wenn die Worte ihr das Mark in den Beinen hatten erschaudern lassen, strahlte sie immer noch Stolz, Eitel und Würde aus.
„Wenn ich dich jetzt schon sehe, sollte ich vielleicht zwei Dinge erwähnen! Erstens, wollen dich die Fünf Weisen sprechen, Katerina!“
Jene zuckte nur mit den Achseln und hob den Beutel hoch.
„Das hatte ich sowieso vor! Einerseits hab ich für unsere krüpplige Königin das Blut, welches ich noch zum Doc schaffen muss und andererseits habe ich ein paar Teufelsfrüchte auf meinem Weg hierher einsammeln können. Eine scheint geradezu prädestiniert für den Neuzugang in unseren Reihen, aber ich muss mit Hilfe des Grimoire erst einmal sicher gehen, ob es auch die richtige ist!“.
Die letzten Worte schleuderte sie Genevieve mit solcher Genugtuung ins Gesicht, dass ihre Fassade leicht zu bröckeln begann. „Was gibt es noch?“
„Orville hat sich vorhin gemeldet. Sie können den Auftrag der Herzkönigin offenbar problemlos durchführen, aber es gibt eine kleine Komplikation...“.
„Die da wäre?“
„Brianna und ihre Truppe sind auf Liberty Bourbon?“
Katerina erstarrte in der Bewegung und beinahe wäre ihr der Beutel mit den Teufelsfrüchten auf den Boden gefallen. Zufrieden betrachtete Genevieve, wie die kühle Fassade aus Arroganz, Macht und Koketterie, mit der sich die rechte Hand des Lords umgab, ein wenig zu bröckeln begann. Doch so befriedigend der Moment auch war, er war nur flüchtig, denn Katerina hatte sich sofort wieder gefangen und setzte ein Lächeln auf.
„Nunja, Orville ist ja da und wird diese barbarischen Schergen der Königin schon unter Kontrolle halten!“, erwiderte sie knapp und wandte sich zum Gehen. Als sie die Eingangstür erreicht hatte, ruhte ihre Hand flüchtig auf der Türklinke, ehe sie sich umdrehte.
„Touché, Genevieve! Ich bin froh, dass du deinen sadistischen Charakter nicht verloren hast“, schmunzelte sie und zwinkerte der Hexe zu, die ihr Lächeln aufrichtig erwiderte.
~ Ein paar Stunden später ~
Die Liege, auf dem sich das Mädchen befand, war so kalt, dass sie am liebsten aufgeschrien hätte, aber sie wusste, dass ihr Körper ihr sowieso nicht mehr gehorchen würde. Nichts gehorchte ihr mehr. Weder ihre Stimme, noch ihr Körper und an manchen Tagen nicht einmal mehr ihre Gedanken. Sie war jeden Tag zu dem Mann gegangen, der sich selbst als Il Dottore bezeichnete und dessen sie Gesicht sie nie gesehen hatte. Er trug einen braunen, altmodischen Mantel aus Leder, der ihm bis zu den Füßen reichte und einen spitz zulaufenden schwarzen Hut aus demselben Material, aber am meisten war ihr die weiße Maske in Erinnerung geblieben, die sie aus Illustrationen kannte. Es war die Maske eines Pest-Doktors gewesen. Sie war aus einem weißen Material, vielleicht Pappe oder sogar etwas robusteres wie Keramik. Das einzige, was sie von dem Mann sehen konnte, waren seine blauen Augen, die sie immer wieder fasziniert gemustert hatten, während ihrer gemeinsamen Stunden, die sie in seinem Labor verbracht hatten. An die ersten Male konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, denn dort hatte man ihr sofort ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt. Vermutlich aus dem Grund, um sie einfach vom Schreiben abzuhalten, wofür sie sich sogar ein wenig schämte. Dann irgendwann hatte sie gemerkt, dass der Doktor ihr nicht weh tat, oder doch? Auf jeden Fall waren sie mittlerweile sogar schon so weit, dass er sie auch nicht mehr an der eisernen Pritsche fixieren musste. Warum auch? Warum sollte sie fliehen? Immerhin war sie hier doch schon immer gewesen und der Doktor war das, was einer Vaterfigur am nächsten kam. Ihr Blick schweifte durch den Raum und blieb auf dem silbernen Tablett neben ihrer Liege stehen. Interessiert musterte sie die mit seltsamen spiralförmigen Mustern übersehene Frucht, die sie entfernt an eine Birne erinnerte. Der Doktor ließ sich auf seinen Stuhl sinken, zog sich ein paar Handschuhe über und begann mit dem schweren Akzent zu reden, der ihr schon so vertraut war, als wäre es ihr eigener.
„Wie geht es unserer kleinen Patientin heute?“, fragte er, aber das Mädchen antwortete nicht. Sie wusste mittlerweile auch gar nicht mehr, ob sie antworten durfte, aber die ersten Male hatte sie immer nur geschrien oder den Doktor und den Schwestern sogar ins Gesicht gespuckt, wenn sie sich ihr genähert hatten. Deswegen blieb sie lieber stumm und der Doktor kümmerte sich auch nicht weiter darum, da er auch gar keine Antwort erwartete. „Heute beenden wir deine Behandlung! Du hast erstaunliche Fortschritte gemacht, meine Liebe und unser großer Meister, der Lord, hat deswegen eine ganz besondere Belohnung für dich!“
Sie wollte etwas erwidern und rebellieren, aber nicht aus Furcht vor der Belohnung, sondern davor, dass sie nun keine Zeit mehr mit dem Doktor verbringen könnte. Jener hatte sich zur Seite gebeugt und nach der exotischen Frucht gegriffen, die er ihr nun vor die Nase hielt.
„Weißt du, was das ist?“, erkundigte er sich. Er wartete sogar einen Moment ab, sodass das Mädchen in ihren Gedanken antworten konnte, eher er die Frage selbst beantwortete.
„Das ist eine Teufelsfrucht! Jeder Diener des Lords bekommt so eine besondere Frucht, um uns zu stärken, damit wir nie wieder Leid verspüren müssen! Weißt du noch, was ich dir damals versprochen hab, als wir uns das erste Mal gesehen haben? Nie wieder sollst du Leid erdulden müssen, meine Kleine! Und heute ist der Tag gekommen, an dem das alles Wirklichkeit wird!“
Als der Mann das Wort „Teufelsfrucht“ in den Mund nahm, leuchtete etwas auf. Ein Bild eines Mädchens mit rauchblauen Haaren, die ihr ebenfalls etwas von einer besonderen Frucht und ihrem Vater erzählt hatte. Aber sie konnte das Bild nicht einordnen. War es eine Erinnerung? Dafür waren die Umrisse aber zu verschwommen und schimmerten nur schwach unter der trüben Oberfläche eines Sees hervor, der mit freudigen Erinnerungen an den Doktor gefüllt war. Das Mädchen verwarf den verwirrenden Ausflug in die tiefen ihres Unterbewusstseins wieder, als der Mann das Skalpell zückte und dem Mädchen ein Stück der Frucht abschnitt.
„Gedenke immer, dass du deine Freiheit dem Lord zu verdanken hast!“
Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, ergriff das Mädchen das Stück, steckte es sich in dem Mund und begann zu kauen. Im ersten Moment war sie überrascht, dass die Frucht nicht süßlich, sondern bitter schmeckte. Aber im Gegensatz zu den Medikamenten, die der Doktor ihr verabreicht hatte, um ihre Angstzustände unter Kontrolle zu bringen, schmeckte sie sogar beinahe gut.
„So ist gut, meine Kleine! Nephthys, du bist jetzt die Nutzerin der Odem-Frucht! Willkommen in unserer Familie!“
Nephthys...einen Wimpernschlag wollte sie widersprechen und sagen, dass ihre Name anders lautete, aber da sie sich nicht daran erinnern konnte, wie ihr richtiger Name war und der Doktor sie noch nie belogen hatte, nickte sie und fiel ihm um den Hals. Egal, was dies für ein Ort war und wie sie hier her gekommen war, sie wusste, dass sie sich ganz tief in ihrem Inneren schon immer nach einer Familie gesehnt hatte. Und endlich hatte sie sie gefunden!
~Zwei Stunden zuvor ~
Brianna hatte den Raum gerade erst verlassen, als Marc sich seufzend auf das weiche Boxspringbrett sinken ließ, sodass die mit Daunenfedern gefütterten Kissen ein wenig in die Luft geschleudert wurden. Kyu, der es sich auf der linken Seite bequem gemacht und sein Kinn auf den Pfoten abgelegt hatte, wurde dabei in die Luft geschleudert und fauchend auf den mit floralen Mustern verzierten Teppich geschleudert.
„Hey, was soll das?!“, knurrte der blonde Fuchs erbost und rappelte sich in seiner Menschengestalt auf, wobei dem braunhaarigen Koch sofort ein mitleidiger Ausdruck aufs Gesicht gemeißelt wurde und Drake vergnügt kicherte, der es irgendwie geschafft hatte, seinen massigen Körper, der mehr denn je aus violetten Tentakeln zu bestehen schien, irgendwie auf die ausladenden Lehnsessel zu wuchten, und nun mit dem Zigarrenschneider spielte, den er Kyu aufmunternd hinhielt.
„Falls du Satisfaktion üben möchtest....das hier würde sich glaube ich hervorragend anbieten“, schmunzelte er, woraufhin sich die erboste Miene des Fuchses augenblicklich ein wenig aufhellte. Kaisa, die erst vor kurzem aus dem Bad gestiefelt gekommen war, und sich ein beigefarbenes Handtuch um die weiblichen Rundungen geschlungen hatte, schüttelte ihr feuchtes limettengrünes Haar aus und zog beim Anblick des Zigarrenschneiders, den Drake in der Luft hielt, die Augenbrauen nach oben.
„Damit hab ich schon einmal jemandem den Ringfinger abgeschnitten“, konstatierte sie trocken und griff zu der Flasche Feuchtigkeitscreme, die das Hotel ihnen bereitgestellt hatte.
„Was hast du gleich wieder für eine Arbeit gehabt?“, kommentierte Marc ungläubig, der sich mittlerweile auf den Bauch gedreht hatte und den Kopf über das Fußende des Bettes hingen ließ. Drake, der ein wenig enttäuscht den Zigarrenschneider auf die Kommode geworfen hatte, war sich nicht sicher, ob er nicht doch ein wenig Angst davor gehabt hatte, dass man seiner Männlichkeit zu Nahe treten würde und deswegen diese Position gewählt hatte.
„Bestimmt nicht das, was sie uns erzählt hat!“, flötete Dädalus giftig, nachdem er die Zimmertür geschlossen hatte und zwei Tickets in der Hand hielt. Jedoch schien keiner Worte zu finden, um etwas zu erwidern, denn alle starrten sprachlos auf den Wissenschaftler, der die verwirrten Blicke mit solcher Genugtuung erntete, dass allesamt mehr als eine Minute schwiegen. Als die Stille allmählich unerträglich wurde, räusperte sich Dädalus, der sich die vereinzelten grauen Haare nach hinten gekämmt hatte und seine schlabbrigen Ponchos gegen einen torfschwarzen Dreiteiler eingetauscht hatte. Aus seiner Jackentasche baumelte die goldene Kette einer Taschenuhr und auch sein Wanderstock hatte einen anderen Aufsatz bekommen. Den oberen Griff zierte nun eine geflügelte Kugel aus Messing, die Marc an irgendetwas zu erinnern schien, aber bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, hatte sich der Alte bereits geräuspert und wieder zu sprechen begonnen.
„Brianna hat uns gebeten, dass wir uns den Abend über nützlich machen, während sie diesen Kunsthistoriker aufsucht. Also habe ich uns allen ein wenig Arbeit besorgt, die mehr oder weniger nützlich ist“, faselte er in einem Dozierton, der Marc und Drake sofort die Müdigkeit auf die Lider trieb, während Kyu und Aloë aufmerksam lauschten und Kaisa immer noch damit beschäftigt war, ihre Alabasterhaut einzucremen.
„Nachdem wir an der Oberfläche, verständlicherweise, keinen Hinweis auf diesen ominösen Harlekin und Orônel-kun erlangt haben, wird es wohl Zeit, dass wir uns auch unter der Erde umschauen. Ich dachte, dass ich vielleicht euch beide das erledigen lasse“, murmelte der Wissenschaftler, der sein Sakko auf Grund der stickigen Temperaturen in ihrem Hotelzimmer ausgezogen hatte und damit den Blick auf sein rot-grün kariertes Hemd freigab.
»Er kann es einfach nicht lassen«, dachte Kyu und gluckste kurz, was der Wissenschaftler fälschlicherweise als Zustimmung missinterpretierte. Damit fuhr er allerdings immer noch besser als Drake, dessen Schädel bereits wieder gefährlich rhythmisch Millimeter um Millimeter nach unten sank, woraufhin sich die Adern auf Dädalus Stirn gefährlich anstauten, sodass der Fuchs am liebsten keine Nadel in ihre Nähe gebracht hätte.
„Dabei gibt es natürlich Sandwiches!“, fügte er übermäßig deutlich betont hinzu, sodass Drakes Kopf in die Höhe schnellte und seine Hand hob.
„Sandwiches?! Da bin ich dabei!!“
„Sehr schön. So hatte ich mir das gedacht“, grinste Dädalus und machte innerlich einen Haken hinter die Aufgabe „Stadt absuchen“ und fügte den Namen des Meermanns und des Fuchses hinzu. Als er sich dem Engel zuwandte, war sein Blick bereits wieder deutlich milder und er schenkte ihr ein Lächeln, welches sie mit einem dezent irritierten Blick erwiderte.
„Bei dir habe ich schon Brianna gefragt. Sie wird dich mit zu Kol nehmen.“
Aloë, welche schon befürchtet hatte, dass sich der kauzige Wissenschaftler eine besonders unangenehme Aufgabe für sie überlegt hatte, seufzte erleichtert und murmelte „Gott sei Dank!“, was Dädalus wiederum perplex die Stirn runzeln ließ, aber jener hatte keine Möglichkeit, um die Gefühlsregung des Engels zu ergründen, denn Marcs Kopf war in die Höhe geschnellt.
„Was?! Ich dachte...ich könnte Brianna...vielleicht begleiten. Immerhin weiß man ja nicht, was hier alles so fleucht und kreucht. Was ist, wenn dieser Harlekin sie angreift!!“
Alle fixierten den Koch mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Mitleid. Nur Dädalus fand wieder treffende Worte als er gelangweilt mit seiner Zunge schnalzte.
„Marc Balthasar Wataru!! Jetzt höre mir auf mit deinen albernen Schwärmereien! Brianna ist eine erwachsene Frau und kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Außerdem habe ich eine andere Aufgabe für dich...du wirst ins Casino gehen!“
„Was für Schwärmer....Casino??!“, wollte Marc bereits wütend einwerfen, aber die Aufgabe, die der Wissenschaftler für ihn aufgehoben haben, ließ seine Wut augenblicklich verpuffen.
„Ja, das hast du ganz richtig gehört!“
„Und was soll ich da?“
„Es ist ganz einfach: Pragmatik! Ich habe keine nützliche Aufgabe mehr für dich und auch, wenn du es vielleicht nicht weißt, aber diese ganze Schatzjäger-Sache bringt meist weniger Geld herein, als man vermuten könnte. Zudem hab ich dir als Kind doch ein paar Tricks beigebracht, die sich als nützlich erweisen könnten, oder?“, zwinkerte er ihm zu und für einen Moment vergaß Marc, dass er bereits ein erwachsener Mann war und fühlte sich wieder wie eines der drei Balgen, die Dädalus auf Chasetown neben ein paar nützlichen Dingen hauptsächlich in Diebstahl und Betrügereien unterwiesen hatte. Die seligen Erinnerungen – nicht nur an Dädalus, sondern auch an die kleine burschikose Brianna und seinen verschlossenen Bruder -, die dabei aufkeimten, ließen ihn sogar die anfängliche Stichelei vergessen und zufrieden nickte er. Kaisa räusperte sich, die mit einem schmatzenden Geräusch die Handflächen aneinander rieb und Dädalus mit erwartungsvoll geweiteten stahlblauen Augen taxierte.
„Und welche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hast du für mich parat?“, warf sie berechnend und mit einer Spur Arroganz ein, die an Dädalus allerdings abzuprallen schien, denn zufrieden schmunzelnd griff er nach den beiden Tickets, die er zuvor in der Hand gehalten hatte und wedelte mit ihnen vor dem Gesicht der CP9-Agentin herum.
„Du wirst mich auf einen Wohltätigkeitsball begleiten, der heute Abend im Panthaemonium stattfindet!“
Die Grünhaarige zog die Augenbrauen soweit nach oben, dass ihre sonst makellose Stirn in viele gewellte Falten geworfen wurde.
„Das soll ein Scherz sein, oder?!“
~ East-City: Panthaemonium ~
Dädalus fuhr sich noch einmal durch die Haare und überprüfte, ob sein Anzug auch tatsächlich glatt gebügelt war, während er darauf wartete, dass der Droschkenführer Kaisa aus der Kutsche herausgeholfen hatte. Elegant öffnete er die Seitentür und streckte der Grünhaarigen seine Hand entgegen,die, mit gerafftem Kleid, seine ergriff und graziös zu Boden sank. Sie schenkte dem Führer ein bezauberndes Lächeln und ließ den Saum ihres schlichten, aber nicht minder eleganten Abendkleides wieder sinken. Es war in einem unschuldigen, cremigen Weißton gehalten und hatte unterhalb des Busens ein paar Strickereien aus silberner Seide, die dem ganzen einen glamourösen Anstrich verlieh. Der Wissenschaftler konnte nicht leugnen, dass die Agentin atemberaubend aussah, was vor allem auch daran lag, dass sie ihre grüne Mähne mit diversen perlenbesetzten Nadeln nach oben gesteckt und genau die richtige Menge an auffallendem Make-Up aufgetragen hatte, obwohl die schicke Aufmachung auch Teil seiner Order gewesen war. Kaisa, die den Blick des Wissenschaftlers und seinen offen stehenden Mund bemerkte, schnippte ihm vors Gesicht und lächelte schief.
„Hey, Perversling, schau mich nicht so an!“
Dädalus benötigte einen Augenblick, um seine Fassung wiederzugewinnen und musste feststellen, dass dadurch die Zeit für einen angemessenen Konter bereits verstrichen war, sodass er sich dazu entschied, ihr den Ellbogen hinzustrecken. Die Grünhaarige verstand die Andeutung problemlos, klemmte sich ihre schwarze Handtasche unter die Arme und hakte sich bei ihm ein. Gemeinsam schritten sie den abgesperrten Teppich entlang, der zu dem seltsam antiken Gebäude führte, welches die große Allee säumte, die östlich vom zentralen Platz unter der gewaltigen Uhr, die in die Mangrove gearbeitet war und deren orangefarbene Kupferblätter nun zweiundzwanzig Uhr schlugen, gelegen war. Es war ein kreisrunder Steinbau mit einer halbrunden Kuppel, wobei die Vorderseite von gewaltigen steinernen Säulen verziert wurde, die Arkadengänge unter steinernen Rundbögen bildeten.
„Das ist dieses Panthaemonium?“, erkundigte sich Kaisa, die beim Anblick dieses antiken Monuments, welches so gar nicht in die Stadt aus Stein, Eisen und Rost passen wollte, sogar ihren giftigen Unterton vergaß.
„Es ist ein Bau im klassizistischen Stil und wurde von der Königin Duchess Courts als Kulturzentrum in Auftrag gegeben. Früher an der Oberfläche fanden dort öfter Konzerte und Benefizgalas statt“, hauchte er ihr ins Ohr, während sie sich weiter dem Eingang näherten, vor dem mehrere Menschen in feiner Abendgarderobe mit erhobenen Gläsern warteten und sich angeregt zu unterhalten schienen. „Ich bin überrascht, dass du Wort gehalten hast und man von deinen Tätowierungen nichts erkennt!“, fügte er hinzu, woraufhin die Grünhaarige ihn mit funkelnden Augen musterte.
„Glaubst du wirklich, dass ich schon so senil bin wie du, alter Tattergreis?! Ich hätte wohl kaum etliche Jahre für die Weltregierung arbeiten können mit diesen Zeichen auf der Haut, oder? Außerdem ist Camouflage-Make-Up ein wahres Wundermittel. Könnte deinem Gesicht auch nicht schaden!“
Dädalus rollte mit den Augen und nickte ein paar Leuten freundlich zu, welche sie passierten, als sie die Marmorstufen hinaufstiegen, die zu den Säulengängen führten. Kaisa warf den Kopf in den Nacken und staunte im Angesicht der Höhe, die sie von weiten völlig falsch eingeschätzt hatte.
„Also, du erinnerst dich noch an unsere Tarnung? Du bist meine Assistentin“, flüsterte der Wissenschaftler, wobei er sich leicht nach vorne beugte und dabei fast Kaisas Ohr mit seinen Lippen berührte. Jene rollte die Augen und ließ genervt die Zunge schnalzen, um zu signalisieren, dass sie kaum eine dämlichere Frage gehört hatte, griff flink in die Innentasche seines Jacketts und zog ihr Ticket heraus.
„Wir sehen uns drinnen“, zwinkerte sie ihm zu und wandelte mit dem flatterndem Saum ihres Kleids zum Eingang, wo sie dem Portier freundlich ihre Eintrittskarte entgegenstreckte und einen verdatterten Dädalus im Säulengang stehen ließ.
~ Midtown: Eine Gasse beim Pumpkin Square ~
„Also gibt es keine Sandwiches?“, seufzte Drake niedergeschlagen und Kyu musste sich zusammenreißen, dass er dem Meermann mit den scharfen, feurigen Klauen nicht ins Gesicht sprang.
„Nein! Das war nur ein Trick von Dädalus, um dich aus dem Halbschlaf zu reißen“, brummte Kyu ein wenig zerknirscht, wobei er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen.
„Aber wer tut denn sowas? Man kann doch nicht etwas zu Essen versprechen und das dann nicht einlösen“, murmelte Drake und trat daraufhin gegen eine der Glasfalschen, welche in der engen Gasse, die von zwei aufragenden Häuserzeilen gesäumt war, am Boden lag. Scheppernd krachte sie gegen einen Müllcontainer, die sich dort häuften und scheuchte etwas auf. Kyu hoffte, dass es sich dabei nur um ein paar gefräßige Ratten und nicht noch etwas Gefährlicheres handelte. Aus einem der Bodengitter stieg weißer Dampf und der Fuchs fragte sich, um was es sich dabei handelte, als Drake die Nase rümpfte.
„Hier riecht es aber nicht gerade gut!“
Plötzlich ertönte Gelächter aus der Gasse und sofort wirbelten die beiden herum und blickten in die Augen einer Gruppe Halbstarker, die sie ganz in schwarze Lederkluft gekleidet auffordernd anblickten. Es dauerte einen Moment, bis Kyu erkannte, dass ein paar von ihnen Messer und einer sogar einen Revolver bei sich trugen.
„Das stimmt, Fisch! Hier treiben sich meist die Penner rum und manchmal ein paar der Prostituierten, die zu heftig durchgenommen wurden oder irgendeinen Trip ausschlafen müssen, auf die sie ihre Freier geschickt haben“, begann einer der Halbstarken zu faseln, dessen linke Augenbraue komplett mit rostigen Ringen gepierct worden war. Er war auch derjenige, der den Revolver in der Hand hielt. „Aber schlussendlich übertönt dein Gestank sowieso alles!“, fügte er hinzu und erntete dabei das Gelächter der gesamten Gruppe. Während Kyu das Blut in den Kopf stieg, blieb der Meermann vollkommen ruhig. Aus den Augenwinkeln glaubte der Blonde sogar zu erkennen, dass er irgendeinen unbestimmten Punkt an der Häuserzeile fixiert hatte, an der unzählige Lüftungs- und Klimaanlagenkästen prangten.
„Hat es dir die Sprache verschlagen? Oder willst du uns deinen dreckigen Köter auf den Hals jagen?“, setzte der Junge nach und zielte mit dem Revolver zielsicher auf Kyu und deutete dabei einen Kopfschoss an. Erst jetzt schien es so, als ob Salvador die Gruppe an Jugendlichen wahrgenommen hatte, die ihnen dort im Weg stand und sie beschimpften. Er legte den Kopf ein wenig schief, wobei die langen Dreadlocks über seine dunkle Lederjacke fielen, die er sich über das weiße T-Shirt mit V-Ausschnitt gezogen hatte.
„Hat einer von euch vielleicht ein Sandwich für mich?“, fragte er in einem Tonfall, bei dem Kyu nicht deuten konnte, ob er die Frage ernst meinte oder die Gang nur veralbern wollte. Jenen schien es zumindest ähnlich zu gehen, denn sie tauschten allesamt verwirrte Blicke aus, bis einer aus der zweiten Reihe das Wort ergriff. Seine ganze Art zu reden schien Kyus Meinung zu unterstreichen, dass man die Masse, welche ihm im Gehirn fehlte, auf seinen Körper umverteilt hatte, denn es schien beinahe so, als hätte er keinen Hals.
„Hey, Brandon! Ich glaube, der ist nicht ganz richtig im Kopf. Vielleicht ist der aus Arkham ausgebüchst....eines der Experimente vom durchgeknallten Pinel!!“, grunzte er, woraufhin alle einstimmig nickten und der Anführer der Gang, Brandon, den Revolver auf Drake richten wollte, aber jener hatte sich so rasch nach vorne bewegt, dass es der Fuchs erst bemerkte, als er mit der einen Hand Brandon den Revolver aus der Hand geschlagen und den dickeren Jungen am Kragen gepackt hatte. Trotz des bitterlichen Flehens schleuderte Drake den korpulenten Jungen mühelos gegen das rostige Gitter einer instabil aussehenden Feuerleiter, von der er krachend abprallte und unter dem Geräusch von splitternden Knochen wieder auf der geteerten Gasse aufschlug. Während die anderen schon panisch die Flucht ergriffen hatten, verharrte Brandon wie angewurzelt und blickte in das Gesicht das Meermanns, welches nach unten blickte und sich dabei dunkle Schatten um seine Augen gelegt hatten. Als sich der Dicke allerdings aufrappelte und mit offensichtlich gebrochener Nase den Gangführer zur Flucht aufforderte, machten sich beide aus dem Staub und verschwanden in der nächsten Querstraße. Kyu war dem ganzen in einer Mischung aus Befriedigung, Erstaunen und dezenter Angst gefolgt, aber als sich Drake umdrehte, war jeglicher Schatten von seinem Gesicht verschwunden. Er kratzte sich am Hinterkopf und hatte sein herzensgutes Lächeln aufgesetzt.
„Die schienen wohl nichts Essbares dabei zu haben“, schmunzelte er und schloss wieder zu dem Fuchs auf, der ihm einfach wortlos zunickte. Gemeinsam verließen sie die Gasse und fanden sich auf dem zentralen Platz Clockwork Oranges wieder. Mit scharfen Fuchsaugen suchte er das Schild und zufrieden las er „Pumpkin Square“. Lächelnd drehte er sich zu Drake um, der dem Treiben auf dem Platz, der sich direkt unter den auslaufenden Wurzeln der Mangrove befand, zusah und flötete begeistert: „Ich bin sicher, dass wir hier etwas für dich zum Essen finden!“
Die Begeisterung in den himmelblauen Augen des Meermanns bereitete Kyu so eine Freude, dass er den Zwischenfall in der Gasse schon fast wieder vergessen hatte.
~ Midtown: Kol’s Appartment ~
Der laute, unterirdische Wind umspielte Briannas Nase, fuhr ihr in die feuerrote Mähne und ließ sie sogar ein wenig frösteln, woraufhin sie den modisch übergroßen schwarzen Pulli wieder über die Schultern zog. Sie tastete die Taschen ihrer tannengrünen Jeans ab, um nach der Teleschnecke zu suchen und die anderen zu kontaktieren, aber da betrat Kol bereits den Balkon durch die großen Glasfenster, die einzig und allein von Metallstreben wie durchsichtige Augen in dem Felsen gehalten wurden. Er hatte sich einen dunklen Mantel übergezogen, dessen hochgeschlagener Kragen ihm fast bis zu den Wangenknochen reichte. Sie konnte das purpurrote Futter darunter erkennen.
„Der Ausblick ist atemberaubend“, seufzte die Schatzjägerin und drehte ihrem Freund wieder den Rücken zu.
„Dort siehst du den Pumpkin Square und das MET“, deutete Kol mit seinen langgliedrigen Fingern nach unten und Brianna musste schon die Augen zusammenkneifen, um mehr als emsige Ameisen dort unten ausmachen zu können, die geschäftig über den Platz wuselten. Erst als er neben ihr stand, erkannte sie, dass etwas Hartes unter seinem Mantel hervorstach, aber sie konnte es nicht ausmachen. Kol, der ihrem Blick gefolgt war, setzte ein schelmisches Lächeln auf.
„Brianna, ich denke, dass du weißt, dass du nicht mein Typ bist. Also, Augen sind hier oben“, maßregelte er sie mit gespielt pikiertem Tonfall, woraufhin Brianna herzlich lachen musste. Sie hatte schon vergessen, wie leicht und schwerelos sie sich in der Gegenwart Kols fühlen könnte. Auch wenn sie ihn bisher noch nicht oft getroffen hatte, so schien sie etwas zu verbinden, was noch tiefer ging als Freundschaft, auch wenn Brianna das nicht wirklich in Worte fassen konnte.
„Ich denke, dass dein Freund das wohl auch nicht so gerne sehen würde!“, erwiderte sie spitzfindig, woraufhin Kol’s Blick sich ein wenig verfinsterte und er schwer seufzte.
„Heikles Thema?“, murmelte die Rothaarige und tätschelte Kol aufmunternd über den Stoff des Mantels, wobei sie eine angespannten Rückenmuskeln sogar durch den Stoff hindurch fühlen konnte.
„Nennen wir es kompliziert...aber genug davon! Du hast noch ein Versprechen einzulösen!“
Brianna runzelte die Stirn, strich sich eine Strähne hinters Ohr und zuckte ergeben die Schulter, um dem Kurator zu vermitteln, dass dieses Thema für sie noch nicht gegessen war.
„Wo sollen wir hin?“
Ohne ihr eine Antwort zu geben, packte Kol sie am Arm, zog sie zu sich und legte seinen kräftigen Arm um ihre Hüfte. Danach ging er leicht in die Hocke und sprang mit einem Satz vom Balkon. Brianna hätte am liebsten geschrien, als die Menschen, die sie vor ein paar Minuten nach als kleine Insekten wahrgenommen hatten, immer näher kamen und sich zu immer größeren Exemplaren ihrer selbst verwandelten. Doch irgendetwas hinderte sie daran. Sie wusste nicht, woran es lag, aber als sie Kols Nähe und Wärme spürte, schien jegliche Angst verflogen zu sein.
~ Central-City: Onyx-Tower ~
Frederick Abberline gähnte ausgiebig, nachdem er seinen beigen Trenchcoat am Haken seines kleinen Büros aufgehängt hatte und das flackernde Licht einschaltete. Er hatte sich nicht darüber beschwert, dass er das kleinste Büro aller Inspektoren besaß, obwohl er immer noch der Erfolgreichste war. Er hatte sogar bei einer Beförderung immer wieder den Umzug in eines der lichtdurchfluteten Büros ausgeschlagen, die seine Kollegen bewohnten und dort schon residierten, sich die Plauze kratzten und die stinkenden Füße auf dem Schreibtisch abstellten, während die Korruption die Stadt von innen auffraß wie ein lästiger Bandwurm. Er ließ sich in den Ledersessel sinken, der leicht knarzte und betrachtete mit einer Mischung aus Erschöpfung und Arbeitseifer, die vergilbten Aktenstapel auf seinen Schreibtisch, die er diese Woche noch bearbeiten wollte und sollte. Jedoch hatte ihn das Treffen mit dem Bürgermeister und seinen Beratern so beansprucht, dass er am liebsten an Ort und Stelle eingeschlafen wäre. Jedoch raufte er die letzten Energiereserven zusammen und schlug den ersten Aktenordner auf, bei dem es sich hauptsächlich um Bagatelldelikte handelte, die zwar nicht die höchste Priorität hatten, aber Abberline vertrat – zum Spott seiner Kollegen – die Ansicht, dass man die Verbrechen dieser Art bereits im Keim ersticken musste und vor allem die jungen Menschen wieder auf die Spur bringen musste, ehe sie zu einem Übel heranwuchsen, welches kaum noch in den Griff zu kriegen war. Missmutig blätterte er durch den Stapel Papiere, die hauptsächlich aus widersprüchlichen Zeugenaussagen bestanden, obwohl der Inspektor bereits wusste, dass diese Verbrechen allesamt auf Brandon und seine Gang gingen, die wohl zu der Kategorie gehörten, die man nicht mehr retten konnte. Abberline wusste schon gar nicht mehr, wie oft er sie schon für ein paar Tage ins Gefängnis gesteckt hatte. Er war froh, dass sein eigener Sohn einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Jedoch übten die Erinnerungen an seinen Sohn keine aufheiternde Stimmung aus und trotz besseren Gewissens öffnete er die unterste Schublade seines Schrankes und zog die Flasche Scotch heraus, die dort immer an harten Arbeitstagen auf ihn wartete. Der rauchig-ätzende Geschmack breitete sich in seiner Kehle aus und seufzend lehnte er sich ein wenig zurück. Seine Augen waren bereits fast zugefallen, als ein Klopfen ihn aus seiner Entspannung riss. Fast ärgerlich stand er auf und hastete zu der Tür. Wer zur Hölle störte ihn noch um diese Uhrzeit? Sein Gesichtszüge hatte sich schon zu einer wütenden Miene verzogen, als er in das herzförmige Antlitz von Shallow McOre blickte.
„Willst du mich reinlassen, Freddy, oder einfach nur angewurzelt im Türrahmen stehen bleiben und mich wie einen deiner Schwerverbrecher anblicken?“, züngelte sie zuckersüß und legte dem abgespannten Inspektor eine Hand auf die Wange. Er hatte schon lange keine Frau mehr kennengelernt, die so eine entwaffnende Art an den Tag gelegt hatte und ehe er es sich versah, drückte sie ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen.
„Das ist aber ein guter Scotch. Kann ich auch ein Glas haben?“, säuselte sie und fuhr sich sinnlich mit dem Daumen über die Lippen, um den Geschmack noch einmal erfahren zu können. Mit einem Nicken machte Abberline Platz und war das erste Mal seit langem unglücklich darüber, dass er nicht eines der größeren Büros genommen hatte.
Das Geräusch von Pferdehufen auf unebenem Kopfsteinpflaster wurde vom mechanischen Klackern zweier Vertreter der Eisernen Brigade unterbrochen, die ihre monotonen Kreise über den Pumpkin Square zogen, der sich Kyu und Drake immer mehr als pulsierende Hauptschlagader der Verrosteten Stadt offenbarte. Der Meermann fuhr sich mit der Serviette über die Mundwinkel, in denen gerade die Falafel verschwunden war und hatte ein strahlendes Grinsen aufgesetzt.
„Ich war so selten so glücklich wie jetzt“, brummte er zufrieden, während die beiden die Straßen überquerten und dabei die Schnelligkeit der Straßenbahn unterschätzt hatten, die sie unter lautem Gehupe auf die andere Straßenseite beorderte. Der Platz, auf dem sie sich befanden, war in einem schachbrettartigen Muster gepflastert und befand sich direkt unter den auslaufenden Wurzeln der Mangrove, die nun nur noch mattes Licht absonderte, sodass dutzende elektrische Lampen ihren Job übernehmen mussten und flackernd ansprangen. Ein Springbrunnen, dessen Zentrum eine eiserne Skulptur aus verschiedenen ineinander verketteten Eisenzahnrädern bildete, wirkte wie ein Fluchtpunkt, zu dem sich die beiden automatisch zugezogen fühlten und gemütlich dorthin schlenderten. Neben Geschäftsmännern in modernen Anzügen fanden sich hier fast alle gesellschaftlichen Schichten und Personen wieder, die sich Drake vorstellen konnte. Verträumte Pärchen, die durch die Nachtluft schlenderten, Frauen in adretten Abendkleidern und Personen, denen eine Dusche und neue Kleidung nicht schaden würden, sammelten sich an verschiedenen Orten dieses Platzes und schienen offensichtlich problemlos miteinander auszukommen, obwohl den himmelblauen Augen des Meermanns die drohende Präsenz der riesigen Zinnsoldaten durchaus bewusst war. Ihre leeren Augenhöhlen schienen zwar nichts widerzuspiegeln, aber dennoch war sich Salvador sicher, dass sie jede einzelne Regung auf dem Platz wahrnehmen konnten. Eine seltsame Mischung aus unerwünschter Beobachtung und befriedigtem Sicherheitsgefühl machte sich in seiner Brust breit, aber er dachte nicht weiter darüber nach, denn Kyu hatte vorgeschlagen, ein wenig über den Platz zu schlendern und so wuselten sie an ein paar Markständen vorbei, die allerlei Trödel verkauften, dessen Sinn sich Drake nicht erschloss, zumal es sich dabei nicht einmal um Dinge handelte, die man verzehren konnte. Der Meermann hing mit seinem Blick immer noch an einem Stand, der ulkig gemusterte Socken verkaufte, sodass er nicht mitbekam, dass der Fuchs innegehalten hatte und wäre somit fast über den kniehohen Fuchsgeist gestolpert.
„Sorry“, murmelte Drake, aber Kyu war bereits in ein Gespräch mit einem jungen Mann, dessen rosafarbenes Haar zu Korkenzieherlocken gerollt war und der vor einer Leinwand stand, vertieft.
„Entschuldigen Sie, aber darf ich fragen, um was es sich bei diesem Symbol handelt, welches sie gezeichnet haben?“
Der Jüngling starrte einen Moment Drake an, da er den sprechenden Fuchs gar nicht wahrgenommen hatte, aber als der Meermann wortlos und perplex zurücklächelte, wanderte sein Blick nach unten und ein verlegener rosaroter Farbton legte sich auf seine blassen Wangen.
„Na, jetzt hab ich dich ganz übersehen, mein Fuchsfreund!“, lächelte er ihm freundlich zu und war dabei sogar in die Hocke gegangen, um mit Kyu auf Augenhöhe plaudern zu können.
„Meinst du den bronzefarbenen Löwen?“, präzisierte der Jüngling die Frage Kyus, woraufhin jener eifrig mit dem Kopf nickte.
„Das ist das Zeichen des nemëischen Löwen!“
„Und wer ist das genau?“
Der Junge lächelte, zupfte sich den grau melierten Mantel ein wenig zurecht und ließ die Farbpinsel in ein Wasserglas sinken. Er legte einen Zeigefinger an die Stirn, als müsste er über die richtigen Worte für seine Antwort nachdenken.
„Das kommt wohl ganz auf die Person an, die man fragt. Für die Polizei und den Bürgermeister ist er ein Verbrecher, ein Vigilant, der Selbstjustiz verübt. Für die normale Bevölkerung ist er der Retter, den sie sich für Clockwork Orange gewünscht haben und für die Verbrecher, die er jagt, ist er wohl der schlimmste Albtraum!“
Der Blonde hatte die Stirn gerunzelt, als er den Worten des Jünglings gefolgt war, die sich in seinen Ohren wie ein Singsang eines Engelschors anhörte.
„Und was ist er für dich?“, schaltete sich Drake ein, der dem Gespräch mit regem Interesse gefolgt war. Wieder stellte sich diese Röte auf den Wangen des Jungen ein und ehe er eine Antwort gab, zupfte er ein wenig verlegen an seinen Ärmeln.
„Ein wahrer Held!“
~ Central Citiy: Onxy Tower ~
Shallow durchstöberte die Schublade nach einer Zigarette und wurde unter einem breiten Lächeln fündig.
„Ich wusste doch, dass einer der Cops am Rauchen ist! Man muss nur suchen!“
„Dir ist schon bewusst, dass das Diebstahl ist?“, schmunzelte Abberline, dessen Hosenträger von seinem aufgeknöpften Hemd gerutscht waren und der ein Glas Scotch in der Hand hielt.
„Nunja...mit deinem Glas in der Hand verkörperst du auch nicht gerade den perfekten Vertreter des Gesetzes“, schmunzelte die Frau, deren zuvor perfekt frisierten ebenholzfarbenen Haare ihr nun verfilzt im Nacken klebten. Ihre Hand tänzelte über seine Brust, als sie sich an dem Polizeiinspektor vorbeidrückte, nicht ohne dass sich Abberline einen flüchtigen Kuss erbeuten konnte. Sie ließ sich auf seinem knarzenden Bürostuhl sinken und zündete mit überschlagenen Beine ihre Zigarette an.
„Und was hast du von unserem ominösen Neuankömmling gehalten?“, schlug sie mit einem weit aus weniger anzüglichen und nun deutlich professionelleren Tonfall an. Abberline musste schmunzeln, denn seit er Shallow als kleines Mädchen kannte, war sie eine Meisterin daran gewesen, Arbeit und Privates zu trennen. Ohne jegliche Reue akzeptierte er, dass ihre wie auch immer geartete Beziehung für diesen Abend beendet war und sie sich wieder dem Geschäftlichen widmen konnte. Dies war einer der nicht wenigen Vorzüge, welche die Beziehung zu ihr mit sich brachten und die genau Abberlines Geschmack trafen.
„Sinclair? Meine Meinung scheint ebenso gut zu sein, wie deine, wenn ich deinen Blick vorher nicht falsch interpretiert habe“, erwiderte er nun brummig und auf einem Mal war die Anspannung in seinen Schulterblättern wieder zurückgekehrt.
„Woher weißt du, dass dieser Blick nicht dir gegolten hat?“, funkelten Shallows dunkle Augen zurück und für einen winzigen Moment blitzte die vorherige Anzüglichkeit wieder durch, aber die Anspannung des Inspektors war bereits wieder so weit angestiegen, dass er sich auf die kleinen Spielereien zwischen ihnen nicht mehr einlassen konnte.
„Ich habe kein gutes Gefühl! Auch diese Parade, mit der er hier eingezogen ist...was sollte das? Hält er sich etwa für den neuen König, den diese Stadt absolut nicht braucht?!“
Die Frau nickte und drückte ihre Asche in ihrem Scotchglas aus, ehe sie sich bückte und eine dünne Akte auf den Tisch fallen ließ.
„Ich habe sofort nach dem Treffen mal meine Kontakte und ein wenig Kleingeld spielen lassen, um zu wissen, was für ein Spieler sich hier aufs Feld gewagt hat und ich befürchte, dass dir die Antwort nicht gefallen wird“, entgegnete sie mit resignierten Tonfall und schob den beigen Umschlag zu Abberlin herüber, der sofort sein Glas abstellte und mit den Fingern danach griff.
Seine Augen huschten über das Schreiben und die sieben Steckbriefe, welche ihm entgegensegelten. Seine Pupillen weiteten sich immer weiter, ehe er Shallow mit vollkommener Fassungslosigkeit musterte.
„Die SALIGIA-Einheit der CP8?!“, platzte es aus ihm heraus und Shallow, deren Gesicht im schwachen Licht der Petroleumlampe fast vollkommen von Dunkelheit verschluckt wurde, nickte leicht.
„Freddy...das ist eine Nummer zu groß für dich und deine Jungs“, schlug sie einen zärtlichen Tonfall an, aber der Polizeiinspektor erwiderte nur vollkommen außer sich.
„Wie meinst du das?! Sollen deine Blechbüchsen etwa auch noch meinen Job übernehmen, die Stadt zu schützen?!“
„Ich weiß, dass du mit der Eisernen Brigade nicht einverstanden bist, aber ihr könnt ja nicht einmal diesen Vigilanten schnappen und die Statistiken...“
„Ach, verschone mich doch damit!!“
Shallow war mittlerweile aufgesprungen und jegliche Zärtlichkeit aus ihrer Stimme war gewichen. „Darauf wollte ich auch nicht hinaus, Frederick! Ich wollte damit sagen, dass sich niemand in dieser Stadt ernsthaft diesen Leuten stellen kann!“
„Warum sollten wir uns überhaupt gegen sie stellen?“, intervenierte Abberline, der gegen sein besseres Gewissen wusste, dass er Shallow vorher zutiefst verletzt hatte.
„Ich werden jedenfalls nicht zulassen, dass die Weltregierung hier je wieder einen Fuß auf diese Insel setzt und einen Anspruch geltend macht, den sie verwirkt haben, als sie uns im Stich gelassen haben, als auf der Oberfläche die Hölle losgebrochen ist! Ich dachte, das würdest du genauso sehen, wenn man bedenkt, was ich...was wir alle dabei verloren haben!!“
Ihre Worte hatten Abberline einen heftigen Magenschwinger verpasst, sodass er sich ein wenig an seinen Schreibtisch abstützen musste. Er wollte sie noch an der Hand greifen, um sich für seine unbedachte Äußerung zu entschuldigen, aber da war Shallow bereits mit heftig klackernden Absätzen aus dem Büro und der Polizeiwache gestürmt. Ja, bei der Trennung von Arbeit und Privaten waren sie beide große Meister und das hatte auch dazu geführt, dass sie immer noch allein waren. Seufzend wollte er zu dem Scotchglas greifen, aber da schoss ihm etwas durch den Kopf. Eilig richtete er seine Hosenträger, legte den Holster um und griff zu seinem Mantel.
~ North-Town: Devil Deep Down Casino ~
Marc kam sich in dem silbergrauen Anzug, den der Hotelmanager ihm besorgt hatte, seltsam unpassend gekleidet vor. Dies speiste sich nicht nur aus der Tatsache, dass er am liebsten barfuß ging, sondern viel mehr daraus, dass er schon als Kind am Hof seiner Eltern ungern formelle Kleidung getragen hatte. Irgendwie fühlte er sich durch sie unnatürlich eingezwängt. Die mittellangen braunen Haare hatte er sich mit etwas Gel nach hinten gekämmt und als er einen der großen Spiegel passierte, die in regelmäßigen Abständen den Gang zierten, musste er feststellen, dass er ziemlich gut aussah. Als er in den Hauptsaal trat, wurde er von der Flut an Geräuschen, Bildern und Sinneseindrücken regelrecht übermannt. Spielautomaten, die seltsame elektronische Töne abgaben und in fluoreszieren Neonlichtern blinkten, paarten sich mit kreischenden Männern und Frauen, deren Kleider oftmals in kaum weniger auffälligen Farben gehalten waren. Ehe er sich versehen konnte, kam eine adrette Bedienung zu ihm geschlendert und reichte ihm ein Glas Champagner, welches jedem Gast des Triple D - wie man das Casino offensichtlich auch nannte - zustand. Als sich der Koch ein wenig genauer umsah, wurde ihm klarer, warum Dädalus gerade ihn für dieses spezielle Abendprogramm ausgesucht hatte. Seine meergrauen Augen wanderten durch das Meer aus leuchtendem Schmuck, Seide und raschelndem Stoff, wobei er rasch feststellte, dass hier hauptsächlich betuchte Personen zu finden waren. Ein Schmunzeln huschte ihm über das Gesicht, denn aus ihrer Runde war er der einzige, der eine halbwegs höfische Erziehung abseits von Dädalus erfahren hatte, sodass er mit den Gepflogenheiten dieser elitären Gruppe durchaus vertraut war. Ein weiterer Grund erschloss sich ihm nur wenige Sekunden später, denn als er die einarmigen Banditen hinter sich gelassen hatte, betrat er den Raum mit den Roulette-, Black Jack- und Pokertischen, die allesamt von bildhübschen Frauen in weiß-roten Uniformen bedient wurden.
„Ein Casino, welches ausschließlich von Frauen geleitet und geführt wird....Dädalus, du alter Schelm“, grinste er in sein Champagnerglas, als er ein kleines Räuspern vernahm.
„Das ist so nicht ganz richtig, Sir!“, wandte sich eine junge Frau an ihn, deren violettes Haar mit wunderschönen, aber vielleicht etwas kindlichen Schmetterlingsspangen nach oben gesteckt war. „Das Casino gehört Hogg Greedborough. Allerdings haben Sie Recht, dass hier ausschließlich Frauen arbeiten. Finden Sie das auch sexistisch?“
Die kugelrunden Rehaugen des Mädchens in einem schlichten schwarzen Kleid blickten ihn eindringlich an und Marc hatte regelrecht Probleme, Worte beim Anblick des Mädchens zu finden. Ihre äußere Erscheinung ließ sie auf maximal sechzehn Jahre schätzen, aber in ihren Augen lag eine Weisheit, die Marc bisher nur bei Dädalus und Leuten seines Kalibers gesehen hatte.
„I-ich...denke schon“, stotterte Marc und fühlte sich auf einmal unbehaglich neben dem jungen Mädchen zu stehen, welche ihm nur knapp über den Bauchnabel reichte.
„Ist Ihr Stottern stressinduziert oder handelt es sich hierbei um eine permanente Störung?“, erkundigte sie sich im absolut sachlich, beinahe journalistischen Tonfall und den Koch hätte es nicht gewundert, wenn sie als nächstes ihren Notizblock geschnappt hätte.
„Wie bitte?“
„Es tut mir Leid! Man sagt mir immer, dass ich dazu neige, unangenehme Fragen zu stellen. Ich möchte Sie auch nicht weiter belästigen und wünsche Ihnen stattdessen einen schönen Aufenthalt!“, flötete sie und schlenderte durch den Raum, ehe sie sich an einen der vielen Roulettetische lehnte und ein paar Chips auf das Feld zu legen begann. Der Braunhaarige blickte ihr noch einen Moment irritiert nach, schüttelte daraufhin den Kopf und wusste, dass er noch mindestens ein weiteres Glas Champagner benötigte, um diese Begegnung zu verstehen.
~ East-City: Panthaemonium ~
Kaisa stand mit verschränkten Armen am Rand und nippte an dem Weißweinglas, welches sie sich an der Bar geholt hatte, obwohl sie am liebsten etwas stärkeres verlangt hätte, denn der Abend schien sich bereits jetzt unerträglich in die Länge zu ziehen. Auch wenn die Örtlichkeit, an der die Benefizgala stattfand, wirklich einzigartig war, denn die Kuppel des antik anmutenden Baus hatte eine kreisrunde Öffnung genau im architektonischen Zentrum und offenbarte dabei den Blick auf das glatte Lustschloss, dessen Spitze in bedrohlicher Perfektion auf das Loch zielte. Nachdem Kaisa an ein paar der ausgestellten Gegenstände – hauptsächlich bedeutende Diamanten und ein paar Leihgaben des Metropolitan Museum of Art – vorbeigeschlendert war, wirbelte sie genervt herum und wäre dabei Dädalus fast in die Arme gerannt, der abwehrend seine Hände hob.
„Pass doch auf!“, herrschte die Grünhaarige ihn an, aber mehr aus dem Grund, um von ihrer eigenen Unachtsamkeit und dem daraus resultierenden Schock abzulenken. Dädalus runzelte nur die Stirn, ging darauf aber nicht weiter ein, denn ein breites Lächeln machte sich auf seinen faltigen Zügen breit, sodass seine weiß-grauen Barthaare sich ein wenig nach oben kräuselten.
„Ich hab das gefunden, nachdem wir gesucht haben!“, setzte er an, wurde aber sofort wieder von einer unwirschen Handbewegung der ehemaligen Agentin unterbrochen.
„Bevor du fortfährst! Nach was genau suchen wir denn überhaupt?“
Ein wenig enttäuscht verblasste das Lächeln und machte wieder dem genervten, dezent feindseligen Gesichtsausdruck Platz, wobei Kaisa sich nicht sicher war, ob nicht sogar eine Spur Enttäuschung mitschwang.
„Es sollte zwar eigentlich eine Überraschung sein, aber wie du weißt, bin ich bei der Entschlüsselung deiner...naja...’Schriftzeichen’ mit meinem Wissen am Ende!“, setzte er an, wobei sich seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern gesenkt hatte.
„Was du nicht sagst...“.
„Auf jeden Fall habe ich vorhin die Prospekte gesehen über diese Benefizgala und dabei ist mir aufgefallen, dass es ein bestimmter Mann auf solchen Festlichkeiten immer anzutreffen ist!“
„Ja?“, platzte es aus Kaisa heraus, nachdem Dädalus verstummt war, als könnte sie sich den Rest selber denken.
„Sein Name ist Daisuke Miyatsu und ich kenne ihn noch aus meinen Forschungstagen! Er ist an allem interessiert, was alt ist und vor allem verboten! Man munkelt in unseren Kreisen schon länger, dass er vielleicht ein Wörterbuch besitzt, welches für deinen speziellen Problemfall mehr als zugeschnitten wäre.“
„Und was haben wir jetzt davon, dass er hier ist? Er wird es wohl kaum bei sich tragen, oder?“
Plötzlich breitete sich wieder das breite Lächeln auf seinen Lippen aus, wobei es dieses Mal von einem verschlagenen Glitzern in seinen Augen verdrängt wurde.
„Miyatsu ist mehr als Paranoid...mit seinen kostbaren Besitztümern reist er überall hin, wo er auch selbst ist. Ich war schon einmal auf seinen Schiff. Eine reine Bastion!“
„Also sollen wir es von dort stehlen?“, hakte die Grünhaarige ein, der allmählich klar wurde, was der Wissenschaftler vor hatte. Jener blickte sich um, als ein Pärchen näher rückte, griff Kaisa am Arm und zog sie widerstandslos ein wenig zur Seite.
„Du wirst es stehlen! Es wäre viel zu auffällig, wenn wir beide von hier verschwinden würden und es wäre dann verschwunden.“
„Hast du einen Plan?“
„Aber natürlich. In ein paar Minuten wird die festliche Musik wieder einsetzen, wenn der Gastredner seine Rede wieder beendet hat. Danach werden wir tanzen und mitten im Tanz wirst du mir eine Ohrfeige verpassen, sowie die Veranstaltung wütend verlassen. In Anbetracht unserer Gefühle füreinander sollte dies kein großes Problem darstellen.“
„Wozu der Aufwand, wenn ich auch einfach jetzt verschwinden könnte?“
„Miyatsu geht davon aus, dass ich mit dir schlafe und trotz meines heftigen Widerspruchs scheint er von dieser Idee einfach nicht abzubringen zu sein. Ich gönne ihm die Genugtuung und den Anblick, dass er Recht hat und lenke seine Aufmerksamkeit somit lieber auf mich. Ich habe nicht gedacht, dass du damit ein Problem hättest!“
„Hab ich auch nicht“, lächelte sie zufrieden, stellte ihr Glas ab und drückte Dädalus einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, wobei sie sich versicherte, dass sie direkt im Blickfeld des paranoiden Kunstsammlers stand. Just in diesem Moment setzte das Streichquartett ein und gemeinsam betraten der Wissenschaftler und die CP9-Agentin die Tanzfläche. Sie waren der Musik einige Minuten gefolgt, wobei die Grünhaarige feststellen musste, dass der Wissenschaftler ein erstaunlich guter Tänzer war. Sie wollte gerade anmerken, dass sie kein Erkennungsmerkmal ausgemacht hatten, um ihr kleines Theaterspiel zu beginnen, aber da ließ Dädalus seine Hand ihren Rücken hinuntergleiten und sie einen Moment zu lange auf ihrem wohl geformten Hintern ruhen, als dass man es als zufällige Berührung abtun hätte können. Instinktiv löste sie sich aus der Tanzfigur und zog ihre Handfläche mit voller Wucht durch. Die umliegenden Tanzpaare, darunter auch Miyatsu, hielten inne und beobachteten das Schauspiel. Kaisa machte indes auf dem Absatz kehrt, wobei sie aus den stahlblauen Augenwinkeln erkennen konnte, dass Dädalus den Anflug eines zufriedenen Lächelns unterdrücken musste. Ihre Absätze flogen übers Parkett und sie hatte den Ausgang fast erreicht, als die Streichmusik augenblicklich verstummte und plötzlich Fanfaren ertönten. Die Agentin wollte ihren Blick schweifen lassen, aber irgendetwas am Eingang zog ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich und ihr war es kaum möglich, ihren Blick nicht auf die Person zu werfen, die als strahlende Lichtgestalt am Eingang des Panthaemoniums aufgetaucht war. Im ersten Moment irritierte es die Agentin, dass die Frau in ihrem wallenden schneeweißen Elfenkleid, dessen Schleppe noch gut drei Meter hinter ihr über den Boden flatterte, barfuß war, aber da hatte sie das bezaubernde Gesicht mit den vielen Sommersprossen, welches von rotblonden Locken gesäumt wurde, bereits erkannt.
Ehe die Fanfaren den Ehrengast ankündigten, huschte Kaisa bereits wortlos ihr Name über die Lippen.
„Ëris...“.
Wie angewurzelt verharrte die Grünhaarige an Ort und Stelle, während die Agentin der CP8 mit ausladenden Schritten direkt auf sie zu geschlendert kam.
~ 1512 Anno Maris: Loguetown ~
Irgendwie schaffte Brianna es, aus dem Haus herauszukommen. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr das gelungen war – alles schien zu einer raschen Folge von Fluren und Treppen zu verschwimmen, bis sie schließlich atemlos auf den Stufen vor der Gaststube stand und sich zu entscheiden versuchte, ob sie sich sofort in die Rosensträucher neben der Eingangstreppe übergeben musste.
Die Büsche waren dafür ideal platziert und Briannas Magen krümmte sich bereits schmerzhaft zusammen, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie außer etwas Suppe nichts gegessen hatte und daher wohl so oder so nicht viel hochwürgen können würde. Langsam stieg sie die Stufen hinunter, ging durch das Gartentor und marschierte blind drauflos. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen war oder wie sie wieder in die Herberge finden sollte, in welcher sie ein Zimmer angemietet hatte, doch das schien im Moment keine Rolle zu spielen und, immer noch berauscht vom Alkohol, machte sie sich auf den Weg. Nach ein paar Metern hielt sie inne und stützte sich gegen einen Laternenpfahl. Der rechteckige Beleuchtungskörper erinnerte sie an die Gaslaternen, die in Chasetown standen. Irgendwie beruhigte sie der Anblick.
„Brianna!“.
Die besorgte Stimme eines Jungen schallte durch die Straße. Marc, dachte die Rothaarige aus einem unerklärlichen Grund heraus und wirbelte herum. Doch es war nicht Marc. Vor ihr stand Kol, der braunhaarige Junge aus der Taverne, in der sie gerade ihren ersten erfolgreichen Auftrag als Schatzjägerin gefeiert hatte. Er wirkte leicht außer Atem, als wäre er ihr nachgelaufen. Erneut wurde sie von demselben Gefühl ergriffen, das sie bereits bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gespürt hatte – eine Art Erkennen, vermischt mit einer Empfindung, die sie jedoch nicht genau benennen konnte. Dabei ging es nicht um Sympathie oder Antipathie: Es war vielmehr wie ein Sog, als zöge sie irgendetwas zu diesem Jungen, den sie doch gar nicht kannte. Vielleicht lag es ja an seinem Aussehen. Er wirkte umwerfend. Schlussendlich war da etwas...irgendetwas an der Form seines Gesichts, an seiner Körperhaltung, an der entwaffnenden Offenheit seiner lindgrünen Augen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er sanft. „Du bist ja aus dem Haus gerannt wie eine...“.
Er verstummte, als er sie genauer betrachtete. Brianna klammerte sich noch immer an den Laternenpfahl, als könnte sie sich ohne ihn nicht auf den Beiden halten.
„Was ist passiert?“
„Ich habe wohl den Schnaps der älteren Herrenrunde da drinnen nicht vertragen“, sagte sie und versuchte dabei, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.
„Oh ja! Die können dich ordentlich abfüllen. Ich begleite meinen Vater auf eine Tagung und warte noch auf ihn. Die versuchen schon die ganze Woche, mich abzufüllen!“
Die Rothaarige rang sich ein Lächeln ab, woraufhin Kol einen Schritt auf sie zu machte und in demselben Moment die Straßenlaterne flackernd ihr Leben aushauchte und sie beide in einen Kegel aus Dunkelheit hüllte. Kol schaute zur Lampe hinauf und lächelte. „Das ist ein Zeichen.“
„Ein Zeichen wofür?“
„Ein Zeichen, dass du dich von mir nach Hause bringen lassen solltest.“
„Aber ich habe keine Ahnung, wo das ist“, gab Brianna zu bedenken, aber da hatte Kol sie bereits am Arm gefasst und sich lächelnd in Bewegung gesetzt.
„Du wohnst in der Herondale-Herberge. Das hast du vorher erwähnt...vor Schnaps Nummer drei!“ Kol bot Brianna ihren Arm. „Wollen wir?“
„Du bist ziemlich zielstrebig!“, entgegnete die junge Schatzjägerin, brachte aber ein Lächeln zustande.
Kol zuckte die Achseln. „Ich habe nun mal eine Schwäche für junge Damen in Not.“
„Sei nicht so sexistisch!“
„Keineswegs. Meine Dienste stehen auch jungen Gentlemen in Not zur Verfügung. Bei dieser Schwäche gilt Chancengleichheit für beide Geschlechter“, sagte er, machte eine elegante Verbeugung und bot ihr erneut seinen Arm an. Dieses Mal hakte Brianna sich bei ihm unter.
~ In der Gegenwart ~
Brianna traute nicht, die Augen zu öffnen und so presste sie ihr Gesicht tiefer in den weichen Stoff von Kols Jacke. Ihr stieg eine aromatische Mischung aus männlich-würzigem Duft, leicht süßlichem Parfum und dem Geruch nach Ruß und rostigem Metall, der in ganz Clockwork Orange vorzuherrschen schien, entgegen. Die Überraschung über Kols Sprung hatte ihr zunächst die Worte geraubt, weswegen es jetzt die pure Mischung aus paralysierendem Schock und aufputschendem Adrenalin war, die sich in ihrem Körper einen Kampf der Urgewalten lieferten. Doch ehe sie einen weiteren Gedanken darüber verschwenden konnte, was die Beweggründe des Kurators für diesen absolut waghalsigen Sprung waren oder sich das Bild ausmalen konnte, wie ihre beiden Körper auf den Straßen der Verrosteten Stadt aufschlugen, hatten sie abrupt innegehalten. Hatte die Nachtluft in rabiater Art und Weise zuvor noch in ihre feuerroten Haare gegriffen, so tänzelte nun nur noch eine laue Brise um ihr Gesicht. Vorsichtig wie ein Kind, welches zum ersten Mal die Augen aufschlägt, blinzelte sie und bereute die Entscheidung postwendend.
„Alles in Ordnung?“, drang die sanfte Stimme Kols an ihre Ohren, der sie immer noch fest umklammert hielt. Brianna, welche unter ihr nur einen meterhohen Abgrund wahrgenommen hatte, schüttelte kurz den Kopf und vergrub das Gesicht tiefer im purpurroten Innenfutter seines Mantelkragens.
„Keine Sorge! Dir wird nichts passieren. Du kannst mir vertrauen!“, sprach er ihr aufmunternd zu und sein warmherziger Tonfall linderte Briannas Schwindelgefühle ein wenig, obwohl sie sich immer noch nicht traute, die Augen zu öffnen.
„Wo genau befinden wir uns denn?“, versuchte sie mit gespielter Gelassenheit zu fragen, obwohl ihre zittrige Stimme ihr in dieser Hinsicht wohl einen Strich durch die Rechnung machte.
„Möchtest du das wirklich wissen?“, neckte der Kurator sie und ehe es sich Brianna versehen konnte, lockerte sich der Griff um ihre Taille und Kol ließ sie los. Die Schatzjägerin wollte aufschreien, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Sie hatte weder das Gefühl zu fallen, noch irgendwie sich zu bewegen. Es war vielmehr so, als...als würde sie sich sogar nach oben bewegen. Blinzelnd öffnete sie die Augen und hätte sie am liebsten gleich wieder geschlossen. Die beiden befanden sich tatsächlich in schwindelerregender Höhe und an Hand des schwarz glänzenden Gesteins, welches nur wenige Zentimeter von ihrer Nase entfernt lag und einen seltsam intensiv Geruch verströmte, wurde ihr schnell klar, dass sie sich an einem der Stalaktiten – dem Onyx-Tower – befanden. Ihr Körper klebte buchstäblich an Kols, während jener flink und in beeindruckendem Tempo die Mauer hochkletterte.
„Was geht hier vor sich?“, fiepte Brianna in peinlich hohem Tonfall, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, dass ihre Angst vor der Unendlichkeit des Meeres nun Gesellschaft in Form von Höhenangst erhalten hatte.
„Alles Teil unseres Handels“, warf Kol aufmunternd über seine Schulter zu Brianna, die wie ein Rucksack an seinen Rücken fixiert war. „Ich brauche ein paar Informationen aus dem hiesigen Polizeipräsidium!“
„Und warum nehmen wir dann nicht den Vordereingang? Immerhin ist doch-“, setzte Brianna an, aber der Braunhaarige unterbrach sie mit einer scharfen Handbewegung. Sie waren nun auf Höhe eines der Fenster, in dem gerade das Licht erloschen war. Überflüssigerweise legte der Kurator erst seinen Finger auf seine vollen Lippen, ehe er auf besagtes Fenster deutete. Er holte zu einem weiten Schlag aus und ließ seine Faust auf das Glas zufliegen. Die Rothaarige hielt sich instinktiv die Hand vors Gesicht, um sich vor dem einsetzenden Scherbenregen zu schützen, aber jener blieb aus. Auch schien das Geräusch von berstendem Glas nicht einzusetzen. Ehe Brianna noch einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, setzte Kol sich in Bewegung und zog sich mit seinem rothaarigen Ballast durch das Fenster.
~ Midtown: Pumpkin Square ~
Der Jüngling fuhr sich das rosafarbene, gelockte Haar und ließ seine Staffelei in den unförmigen Seesack gleiten, den er im darauffolgenden Moment schulterte. Seufzend setzte er sich in Bewegung, wobei seine Füße ihn wie von selbst durch die Gassen der Verrosteten Stadt trugen, die er seit dem Zwischenfall sein Zuhause nannte. Bei den Gedanken an die Apokalypse, welche über Liberty Bourbon herangebrochen waren, warf er seufzend den Kopf in den Nacken und blickte gen steinernes Firmament, welches sich über den Köpfen der tausenden Menschen spannte, die wider der Natur unter der Erde und dem Meeresspiegel ihre Zuflucht gesucht hatten.
Kann man etwas ein Zuhause nennen, was einem Käfig gleicht? Die Seele einsperrt in ein trostloses Inneres?
Er wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als seine Augen eine flüchtige Bewegung wahrnahmen. Einen flinker Schatten, der sich fast vollkommen unsichtbar mit der schwarzen Mauer des Ony-Towers verbunden hatte. Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, ehe es verebbte, wie tosende Wellen bei abflachenden Wind.
„Viel Glück, Löwe!“, murmelte er kaum hörbar und stieg in die klappernde Straßenbahn, die quietschend vor ihm zum Stehen kam.
~ East City: Panthaemonium ~
Dädalus, der den feurigen Abdruck auf seiner Wange immer noch spürte, musste sich das selige Grinsen aus dem Gesicht wischen, um den Schein zu wahren. In einer Mischung aus gespielter Entrüstung und Wehmut blickte er Kaisa hinterher, die bereits auf den Weg war, um den Raum zu verlassen. Flüchtig lugte er in Richtung Daisukes, dessen katzenähnliche Augen zu Schlitzen verengt waren und der ihm vom Rand der Tanzfläche aus zuprostete. Der Wissenschaftler konnte die Genugtuung in seiner ganzen Ausstrahlung sehen. Der paranoide Kunstsammler, welchen er vor knapp einem dutzend Jahren bereits auf einer ähnlichen Gala kennen gelernt hatte, war ein arroganter Wicht, der nichts mehr genoss, als die Demütigung anderer. Es hielt sich auch hartnäckig das Gerücht, dass er die Gesellschaft androgyner Jungen und Mädchen suchte, welche gerade die Schwelle zur Pubertät überquert hatte, was Dädalus umso mehr dazu bewog, Kaisa bei ihrem Vorhaben unter die Arme zu greifen. Zumal der Greis wusste, dass dieses Notizbuch eigentlich in die Bibliothek von Ohara gehörte. Mit einem Kopfschütteln riss er sich aus seinen Gedanken los und ließ seinen falkenähnlichen Blick durch den Raum wandern und parallel zum Einsetzen der tosenden Fanfaren, erkannte er, dass die Grünhaarige mitten vor dem Eingang erstarrt war.
Kaisa was tust du da zur Hölle?
Doch da erkannte er bereits die engelsgleiche Gestalt, welche den Raum betreten hatte. Ihr wallendes weißes Kleid, ihr weiblicher Gang und die funkelnden strahlend blauen Augen.
Kaisa war sich nicht sicher, ob Ëris ihre Worte vernommen hatte, aber die Agentin der CP8 ließ den Saum ihres Rockes fallen und ihre Lippen, welche golden funkelten, öffneten sich sinnlich zu einer gehauchten Begrüßung. Die Grünhaarige konnte sich immer noch nicht losreißen von dem Anblick geballter Erotik, die vehement und überwältigend wie ein galoppierendes Sommergewitter und gleichermaßen in stiller Demut, einer morbiden Zerbrechlichkeit eines goldenen Herbstabends gleich, über sie hereinbrach. Die Rotblonde stand nun nur noch einen Fingerzeig von ihr entfernt, hob ihre weißen Hände und fuhr sanft über die bleiche Haut der Agentin. Ihre Berührung ließ die sie am ganzen Körper erzittern, wobei sich gefrierendes Mark und erbebende Lust einen Kampf der Urgewalten in ihrem Inneren lieferten. Ehe es sich die Agentin versah, stellte sich Ëris auf die Zehenspitzen und drückte ihre gold-glitzernden Lippen auf die blass geschminkten der Grünhaarigen. Der intensive Zungenkuss, den Kaisa nun in völliger Ermattung über sich ergehen ließ, brach sie vollkommen. Taumelnd wich sie zurück, starrte die Rotblonde in einer Mischung aus Irritation und Entsetzen an, während jene sich mit dem Daumen genüsslich über die Lippen fuhr, als würde sie noch den letzten Tropfen, der nach der kühlen CP9-Agentin schmeckte, kosten wollen. Irgendetwas in ihrem Inneren schien sich zu wehren. Versuchte, das amouröse Bild zu zerreißen und die erotischen Flammen mit allen Mitteln zu ersticken, die in ihr aufgekeimt war. Mit rebellischem Blick, bereit, sich der Vertreterin der SALIGIA-Einheit entgegenzustellen, hob sie ihr Haupt. Ëris legte den Kopf schief und just in dem Moment, als Kaisa zum Sprung ansetzen wollte, als die Flammen erstickt und der rosafarbene Nebel in ihren Gedanken sich gelichtet hatte, blickte sie nicht mehr in das türkisfarbene Blau einer mediterranen Bucht, sondern in verflüssigtes Gold. Sie schien vollkommen in dem Meer des Edelmetalls zu versinken. Sie schlug mit den Armen um sich, versuchte verzweifelt, mit den Beinen zu treten, aber da hatten sie die Wogen bereits vollkommen verschluckt, ehe sie sich zu einer spiegelglatten Fläche zusammenschlossen, die niemals den geringsten Eindruck einer Bewegung erweckt hätte.
~ North-City: Soho ~
Entmutigt lehnte sich Aloë gegen eines der Straßenschilder und raufte sich die rauchblauen Haare. Ihre bernsteinfarbenen Augen wanderten zu dem Straßenschild hinauf, aber anstatt Buchstaben sprangen ihr nur vollkommen unverständliche Buchstaben entgegen, die sie beim besten Willen nicht auf dem Stadtplan finden konnte, den Brianna und Kol ihr gegeben hatten, um zu ihrem Hotel zurückzufinden. Sie war nun schon eine gute Stunde unterwegs und hatte sie die Abenteuerlust zu beginn noch zielstrebig voranschreiten lassen, fühlte sie sich jetzt mit jeder weiteren Straße, die in einer Sackgasse endete und sich immer mehr im verwinkelten Labyrinth aus Gestein, Metall und Schrott verlor, vollkommen überfordert. Am liebsten wäre sie in die Lüfte gestiegen, um sich einen besseren Überblick zu schaffen, aber sofort hallte wieder die Warnung Briannas durch ihre Ohren, dass manche Leute es auf Teufelsfruchtnutzer abgesehen hatten. Sie kämpfte gegen die aufkeimenden Tränen, schüttelte ihr Haupt und schob trotzig das Kinn nach vorne, wie sie es immer tat, wenn sie sich oder anderen etwas beweisen wollte. Sie knüllte den Stadtplan zusammen und ließ ihn in den kleinen Rucksack gleiten, den sie über ihr schulterfreies, schneeweißes Spitzenkleid geworfen hatte. Sie verließ die kleine Gasse und plötzlich fächerte sich die uneben gepflasterte Gasse, deren Namen für den Engel absolut unlesbar gewesen war, zu einem vielbelebten Platz aus. Der Anstieg des Geräuschpegels, der sich aus lärmenden Maschinen, Menschen und sogar einigen Tieren zusammensetzte, war enorm. Die breite Hauptstraße war gesäumt von roten, kugelrunden Girlanden, die von einer Häuserzeile zur nächsten gespannt waren und die komplette Straße säumten. Der Anblick der exotischen Schilder und sogar der teilweise veränderte Baustil ließ Aloës Resignation augenblicklich verpuffen. Diese Welt unter der Erde unterschied sich hier in fast allen Dingen, die sie auf dem Aurora Archipel kennengelernt hatte. Hühner, Katzen und Hunde tollten hier über die Straße, während der Großteil der Menschen hier klein gewachsen war und sogar die Erwachsenen Aloë in der Größe kaum übertrumpften. Wobei es der Blauhaarigen zunehmend schwerer fiel, die Bewohner dieses Stadtviertels einzuschätzen, da sie allesamt gedrungene Figuren, schwarzes Haar hatte und sich ihre Augen mehr oder weniger zu schmalen Schlitzen verengt hatten.
Vielleicht eine Nebenwirkung des Lebens unter Erde?
Auch hatte sich der Klang der Sprache verändert, was Aloë allerdings erst auffiel, als sie versehentlich gegen einen Mann stolperte, während ihre Augen in einer Mischung aus Ekel und Faszination mit angesehen hatte, wie eine der Marktfrauen einen Hahn bei lebendigen Leib den Hals umdrehte und anfing, ihn mitten auf der Straße zu rupfen. Ihre Worte waren insgesamt hastiger und die Tonlage höher. Irgendetwas an ihr behagte Aloë nicht und die allmähliche Faszination und Bewunderung für diesen Ort verebbte, je tiefer sie sich in dem Meer aus beinahe gleich aussehenden Menschen, roten Lampions und Markständen mit okkulten Artefakten, Lebensmitteln und anderen Gegenständen verlor. Sie hatte sich, getrieben von der dahinströmenden Masse, in einem Netz aus Gassen verloren, welches sie nun nicht mehr zu entwirren vermochte. Zudem hatte sie das Gefühl, dass die Menschen - waren sie ihr zuvor noch mit freundlichen Gesichtern begegnet – nun immer mehr skeptische und teilweise voyeuristische Blicke zuwarfen. Sie fühlte sich auf einmal seltsam nackt und verfluchte sich dafür, dass sie keine Jacke dabei hatte, die sie über die bloßen Schultern werfen konnte. Sie passierte eine schmale Gasse, deren Enge ihr schwere Eisenringe um das Herz schmiedete und ihr panischen Schweiß auf die Haut trieb. Sie konnte jetzt das Gefühl nicht mehr abschütteln, dass sie beobachtet würde. Aloë beschleunigte ihren Schritt, sodass ihr rauchblaues Haar im Wind flatterte, aber ihre Verfolger, kaum mehr als Schatten in den Wänden, schienen mit ihr Schritt zu halten. In existentieller Angst hielt sie inne, schloss die Augen und versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, was ihr vertraut war: die Natur! Doch die Stimme der Flora war genauso stumm wie der nackte Fels um sie herum, dessen Sprache sie nicht verstand und der tosende Wind war nur ein weit entferntes Flüstern. Etwas berührte ihren Arm oder hatte sie sich das nur eingebildet? Mit panischem Herzschlag stolperte sie aus der Gasse und der kurze Anflug seliger Erleichterung breitete sich in ihrer Brust aus, zerschmetterte die Eisenringe, als sie einen weiteren Platz betrat. Sie blinzelte, wobei sie bemerkte, dass sich winzige Tränen in ihren Lidern verfangen hatte. Erleichtert wischte sie sie weg, doch da setzte das rhythmische Murmeln ein und die Befangenheit und Angst kehrten in schlagartiger Vehemenz zurück, dass Aloë fast die Beine eingeknickt wären.
Gähnend ließ sich Drake in den Hauseingang sinken und streckte seine zehn Glieder weit von sich, sodass ein paar Knochen knackten. Er legte den Kopf gegen den eisernen Rahmen und beobachtete mit schläfrigen Augen Kyu, der etwas an der gegenüberliegenden Ziegelmauer untersuchte.
„Kleiner, was gibt es denn da zu sehen?“, brabbelte er, wobei der Fuchsjunge nur die Hälfte verstand, da der Wortschwall mit einem herzhaften Gähnen untermalt wurde.
„Nichts Interessantes...“, erwiderte Kyu achselzuckend, während seine pelzigen Fuchsschwänze in seltsamer Anmut einander umarmten. „Hier sind nur weitere Graffitis über diesen Löwen, den auch schon dieser Kerl am Pumpkin Square gezeichnet hat.“
„Dieser Löwen-Mensch?“
„Richtig! Aber vom Harlekin keine Spur, obwohl ich auch nicht weiß, wonach ich suchen soll. Damals auf Kalkutta hatten wir ja noch nichtmal eine Ahnung, wer er ist oder aus welchen Motiven er unseren Freund getötet hat“, murmelte Kyu, der sich neben Drake am Boden ein wenig eingerollt hatte. Der Meermann stutzte, als er die Veränderung der Tonlage bei dem blonden Fuchsgeist bemerkte. Es war nicht nur Trauer, die in seinen Worten mitschwang, denn ein Schatten hatte sich über sein Gesicht gelegt, erleuchtet von einem einzelnen kleinen Funken, den Salvador als puren Hass entzifferte. Ehe er jedoch dieser Gefühlswandlung nachgehen konnte, hatte Kyu schon weitergeredet. „Wir haben damals ja nur diese seltsamen Spielkarten erhalten mit seinen Nachrichten...“.
Kyus Nasenlöcher weiteten sich als ihm ein süßlicher Geruch in die Nase stieg, den er bisher noch nicht vernommen hatte. Seine pechschwarzen Augen wanderten nach oben und erkannten, dass Salvador sich eine selbstgedrehte Zigarette angezündet hatte, während er seine mittelblonden Dreads um eine seiner Tentakeln zwirbelte.
„Möchtest du auch mal?“, flötete er mit seltsam gedehnter Stimme, woraufhin Kyu energisch den Kopf schüttelte. Irgendetwas an dem Geruch bereitete ihm Kopfschmerzen, sodass er sich aufrappelte und die kleine Gasse entlang schlenderte, die sich als Wohngebiet einer mittleren Bürgerschicht herausstellte. Der Blonde war fasziniert von der Art und Weise, wie die Menschen der Verrosteten Stadt versuchten, ihr Leben hier unten einigermaßen angenehm und „normal“ zu gestalten. Bei dem Gedanken musste er wehmütig schmunzeln, ehe er an einer der Blumen mit den farblosen Blättern schnupperte, die der Hausbesitzer auf seinen Fenstersims aufgestellt hatte.
Was ist schon Normalität, Kyu? Hast du sie jemals erlebt? Kannst du dir überhaupt anmaßen, was das bedeuten kann? Würdest du jetzt mit Brianna und einem Haufen exzentrischer Personen unterwegs sein und dein Leben riskieren, um einen soziopathischen Serienkiller zu töten? Die Normalität ist spätestens an dem Tag gestorben, als du das Leben dieses Mädchens auf kaltherzige Weise beendet hast...
Vollkommen unvermittelt wurde Kyu aus den Gedanken gerissen, denn sein sensibles Gehör hatte etwas wahrgenommen, doch die Person hinter ihm war schneller gewesen, hatte seinen Körper umschlungen und presste ihm etwas auf den Mund, sodass er nicht nach Drake schreien konnte. Er wollte schon zubeißen oder die Flammen um seinen Körper züngeln lassen, als ihm etwas in die Nase stieg. Ein Geruch, der ihn schwindeln ließ.
~ Central-City: Onyx Tower ~
„Ich wusste ja gar nicht, dass du ein Teufelskraftnutzer bist, Kol“, schmunzelte Brianna, die es sich im Lehnsessel des Polizeiinspektors bequem gemacht hatte und dem Kurator zusah, der seine Finger über die Deckenhoch gestapelten Aktenordner und Kisten mit Dokumenten wandern ließ. Kol wandte ihr halb das Gesicht zu und schenkte ihr ein schelmisches Grinsen.
„Naja, du weißt nicht alles über mich. Beispielsweise ist mein rechter Fuß ein wenig größer als der andere, ich mag keinen Fenchel und finde nichts romantischer als Spaziergänge bei Mondschein am Strand!“
Die Rothaarige rollte mit den meergrauen Augen, beugte sich vor und stützte ihren Kopf auf ihre Hände, woraufhin sich ein angenehmes Schweigen ausbreitete, welches nur vom gelegentlichen Seufzen Kols oder dem konstanten Ticken der Uhr unterbrochen wurde. Brianna konnte indes ihre Neugier nicht im Zaum halten und ließ ihren Blick über den erstaunlich ordentlichen Schreibtisch wandern, bis sie am Messingschild, welches von den Initialen F.A. geziert wurde, haften blick. Daneben fand sich ein gerahmtes Bild eines – objektiv betrachtet – gut aussehenden Mannes mit einem dichten Schnauzer, der einen kleinen Jungen auf dem Arm hielt, während sie freundlich in die Kamera lächelten. Der Junge mit den hellbraunen Haaren war vielleicht um die fünf Jahre. Irgendetwas regte sich in Briannas Brust. Es war ein Gefühl oder eine Ahnung, die sie nicht definieren konnte, aber die ihren Magen zu einem schmerzhaften Knoten zusammenziehen ließ. Dennoch hatte sie nicht die Möglichkeit, einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, denn mit siegessicherer Pose ließ Kol eine Akte auf den Schreibtisch knallen, während er sich mit dem Daumen über die Nasenspitze fuhr.
„Gefunden!“, verkündete er strahlend und seine lindgrünen, beinahe unnatürlich strahlenden Augen bedeuteten ihr, die Akte zu öffnen. Die Rothaarige, die das Gefühl, welches in ihrem Inneren immer noch vor sich hin schwelte, abzuschütteln versuchte, griff zu dem Aktenordner und musterte ihn mit hochgezogenen Brauen.
„Das da drinnen ist meine Gegenleistung?“, erkundigte sie sich skeptisch, als sie den dicken Aktenordner in den Händen hielt, der mit einer ordentlichen, aber energischen Handschrift ausgefüllt worden war. Kol ging in die Hocke, wobei sein Kopf nun auf der Tischplatte ruhte und nickte stumm. Die Gesichtsmuskeln der Rothaarigen entspannten sich ein wenig, wohingegen sich ihre Lippen zu einer dünnen, schiefen Linie verzogen, während sie die Akte überflog.
Kol hatte sich indes an das Fenster gelehnt und genoss die frische Luft, die durch das offene Fenster hereinströmte. Er hörte, dass Brianna, welche in der gesamten Zwischenzeit geschwiegen hatte, den Aktenordner geschlossen hatte. Dennoch drehte er sich nicht um, denn auch die Schatzjägerin saß mit gefalteten Händen immer noch auf dem Schreibtischstuhl und starrte in die Leere. Die große Stadtuhr im Zentrum der Mangrove schlug nun dreiundzwanzig Uhr, was Brianna auch gleichzeitig aus ihrer Starre löste. Stumm ging sie zu Kol, der sie ausdruckslos und mit einer neugierig-beobachtenden Distanz musterte. Zu seiner Überraschung spiegelte sich in ihrem Gesicht keine Wut, kein Desinteresse oder Abscheu. Ihre meergrauen Augen waren wässrig und vermittelten somit noch mehr den Eindruck einer endlosen See mit ihrer seichten, teilweise stürmischen Wellenbewegung. Sie legte ihre Handfläche auf seine Wange und noch ehe sie die Worte sprach, merkte Kol, dass nun auch er die Tränen nicht zurückhalten konnte.
„Kol, ich bin keine Mörderin und du bist es auch nicht...“.
Der Kurator konnte nicht sagen, dass er die Reaktion der Schatzjägerin, die er nun schon seit einigen Jahren kannte, nicht erwartet hätte. Ebenso konnte er nicht leugnen, dass das Mitgefühl und die Betroffenheit in ihrer Stimme in ihm keine Zweifel gesät hätten, aber irgendetwas in ihm sorgte dafür, dass seine Erkenntnis in Wut umschlug. Energisch und plötzlich stieß er ihre Hand weg und funkelte sie an.
„Achja?! Und woher willst du das denn wissen?!!“
~ North-Town: Triple-D Casino ~
Zufrieden streckte Marc seine beiden Arme nach dem Haufen Chips aus, die er in den letzten Runden Black Jack erbeutet hatte und ließ sie in den kleinen Beutel gleiten, in dem sich schon eine ordentliche Menge der verschiedenfarbigen Taler angesammelt hatte. Grinsend erhob er sich vom Tisch und ließ seinen Blick über die Menge Menschen wandern, die sich in feine Abendgarderobe gepresst hatte, ihre Sekt- und Champagnergläser in den Händen hielt und sich um die verschiedenen Spielautomaten und Roulettetische gezwängt hatte. Er lockerte seine Krawatte ein wenig, um seinem markanten Adamsapfel ein wenig Luft zum Atmen zu gönnen, ehe er sich eine der gefüllten Blätterteigtaschen schnappte, die eine Bedienung an ihm vorbei trug.
Da fehlt Salz und ein wenig Muskatnuss...der Spinat schmeckt ja nach gar nichts..
Er drückte sich an einer korpulenten Frau vorbei, deren Perlenkette ihren Kopf in sehr ungraziöser Art und Weise von dem üppigen Rumpf abschnitt, als er das kleine Mädchen wiedererkannte, dass an einem Roulettetisch stand.
„Schwarz 7 gewinnt“, verkündete die Dame, welche den Tisch betreute, mit perfekter Mischung aus wiederholter Monotonie und Spannung. Das Mädchen reckte die Faust in die Lüfte, und Marc wurde klar, dass sie gerade eine Punktlandung erzielt hatte. Sie hatte zwei der schwarzen Chips auf das Feld gesetzt, die jeweils hunderttausend Berry wert waren und schob ihren Gewinn nun ebenfalls in ihren Beutel, während die Menge um sie herum sie mit neidischen Blicken musterte, ehe sie sich ein wenig verlegen vom Tisch verabschiedete. Einen Moment zu spät erkannte der braunhaarige Koch, dass er sie zu lange angesehen hatte, denn das Mädchen starrte ihn nun mit unverhohlener Neugier an, ehe etwas in ihren Augen auffunkelte, was er nicht einordnen konnte.
„Der Stotterer“, erwiderte sie freundlich und herablassend zugleich, sodass Marc wieder die Sprach wegblieb.
„Ich hoffe, dass Sie nicht irgend so ein Perversling sind, der kleine Mädchen entführt“, fuhr das Mädchen unbeirrt fort.
„W-a-as? Wie bitte?“, erwiderte der Braunhaarige, aber da hatte das Mädchen bereits ihre Brille zurechtgerückt und starrte interessiert auf Marcs rechte Hand, in der er den Beutel hielt. Der Koch wollte den Griff schon verstärken, ehe die Kleine in einem analytisch-interessierten Tonfall zu sprechen fortfuhr.
„Gute Arbeit mit Ihrer Hand! Schwarzes Titan und Wapometall, denke ich mal, oder?“
„Mei-meine Hand?“, stotterte Marc nun ehrlich verdutzt, der einen Moment benötigte, um das Interesse das jungen Mädchens nachzuvollziehen. Er hatte sich immer noch nicht wirklich über die Absonderlichkeit seines rechten Arms gewöhnt oder viel mehr es schon so sehr akzeptiert, dass es ihm nicht als unnatürlich vorkam. Er hatte offenbar zu lange überlegt, denn das Mädchen hatte schon wieder das Wort ergriffen, wobei sie ihn nun durch ihre dicken Brillengläser direkt anblickte. Ihre veilchenblauen Augen harmonierten dabei in faszinierender Art und Weise mit ihren Haaren und es kam Marc so vor, als verlöre er sich einen Moment in einem Meer aus duftendem Lavendel.
„Also wirklich. Sie sollten damit mal zu einem Logopäden gehen. Man kann ja gar kein richtiges Gespräch mit ihnen...“.
„Ja!“, unterbrach der Koch sie nun deutlich, wobei sie zusammenzuckte, als hätte er sie angeschrien. „Das ist vollkommen richtig und nur um das klarzustellen. Ich stottere nicht. Also zumindest nicht öfters, als andere Menschen. Du...du bringst mich mit deiner Art nur vollkommen aus dem Konzept“, haspelte er in einem Sturzbach der Worte vor sich hin und einen Augenblick genoss er den Ausdruck der vollkommenen Überraschung im Gesicht des jungen Mädchens. Doch sein Triumph währte nicht lange, denn sie richtete wieder ihre Brille und schenkte ihm plötzlich so ein herzliches Lächeln, das jede analytische Sachlichkeit von vorhin augenblicklich verpuffen ließ.
„Das freut mich wirklich sehr! Ich bin übrigens Sophie!“
„Marc, freut mich ebenfalls, deine Bekanntschaft zu machen“, entgegnete der Braunhaarige, der jetzt erstmals den Eindruck hatte, mit einem echten Mädchen zu reden. „Du hast ja schon einiges gewonnen, wie ich sehe!“
„Sie...äh du...aber auch. Ich würde schätzen...fünf Millionen Berry?“
„A-aber woher?“
Sophie lächelte und dieses Mal gesellte sich zu dem braven Grinsen eines fünfzehnjährigen Mädchens wieder dieser Ausdruck des Wissens, den Marc nur von Dädalus kannte.
„Alles nur Mathematik. Wenn du willst, dann zeige ich es dir? Aber nur, wenn du mir erklärst, wie du Black Jack so gut meistern konntest. Zählst du Karten?“
Ihr Lächeln war entwaffnend und bestürzt blickte Marc sich um, denn es war strengstens verboten, im Casino Karten zu zählen, aber zum Glück waren alle Reichen und mehr oder weniger Schönen im Triple D zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Vermögen zu vermehren oder ihr letztes Hemd zu verspielen. Verschwörerisch ging Marc in die Hocke, sodass sich das ovale Gesicht Sophies und seines fast berührten.
„Ich verrate dir meinen Trick, wenn du mir deinen erklärst. Abgemacht?“, murmelte er in gespielt verschwörerischem Ton und streckte dem Mädchen mit den violetten Haaren seinen kleinen Finger hin.
„Abgemacht!“, grinste sie freudig und hakte sich mit dem ihrigen bei ihm unter.
~ * ~
Der Mann betrachtete das Pärchen aus sicherer Entfernung, ehe seine Hand in die Innentasche seines Jacketts wanderte. Er zog daraufhin ein paar handliche Bilder heraus und seine wilden Augen huschten in wilder Raserei über die schwarz-weißen Photographien. Bei dem alten Kauz und Kaisa hatte man schon ein schwarzes Kreuz über die Bilder gemacht, aber das war ihm gleichgültig, denn er erkannte den Mann wieder. Zufrieden lächelte er, entblößte dabei die Zähne wie ein Raubtier, das seine Beute gewittert und Blut geleckt hatte. Unwirsch packte er eine der aufreizend gekleideten Bedienungen, was sein Gemüt in Rage brachte, aber er versuchte sich wieder auf seine Beute zu fokussieren. Jene wollte schon etwas Harsches erwidern, aber als sie seinen Blick erkannte, wich ihre Wut blankem Entsetzen und Schweißperlen der Angst legten sich auf ihre Stirn. Er wählte seine Worte mit bedacht, mit gespielter Eleganz, wobei jeder Buchstabe und jede Silbe wie blanke Messer in ihre Seele schnitten, ihr Innerstes freilegten, Schicht für Schicht. Nachdem er seine Bitte geäußert hatte, schien von ihr nicht mehr übrig zu bleiben, als eine leere Hülle, aber ohne ein weiteres Wort leistete sie ihm Folge.
~ West-City: Moral Lane ~
Der blonde Fuchs seufzte, als die beiden wieder in schallendes Gelächter ausbrachen und sein Leidensgenosse pflichtete ihm kopfschüttelnd bei. Kyu war zwar froh, dass die Begegnung mit den beiden Fremden keinen anderen, unschönen Ausgang genommen hatte, aber dennoch konnte er nicht leugnen, dass Drake in Verbindung mit seinen Kumpanen eine furchtbar nervenaufreibende und anstrengende Kombination bildete.
~ Wenige Minuten zuvor ~
„Shh“, zischte Drake in Kyus Fuchsohren, nachdem er ihn mit den Tentakeln umklammert und in den Schutz einer Hecke aus blassen Nadelgewächsen gezogen hatte. „Da kommt jemand“, erkläre er, nachdem er den Fuchs freigelassen hatte, der theatralisch nach Luft schnappte. Er wollte schon wütend etwas erwidern, als der Meermann ihm erneut den Mund zuhielt. Erst jetzt zuckten seine spitzen, fellbedeckten Ohren und er vernahm das Stimmenpaar zweier Männer, die in eine hitzige Diskussion vertieft zu sein schienen.
„Ich hab dir doch gesagt, Kaktusschädel, dass wir vorher nach rechts abbiegen mussten“, dröhnte der eine, dessen Stimmmelodie Kyu an etwas erinnerte, was er momentan noch nicht einordnen konnte.
„Sag mir nicht, was ich tun muss oder nicht! Ich kann eh nicht verstehen, warum ich mit dir unterwegs sein muss, während Sophie ins Casino abgehauen ist!“, jammerte die andere herablassend.
„Bewahre mich jemand vor deiner Dummheit, Ibn El Kalb!“
Kyu spähte kurz aus der Hecke hervor, um die beiden Männer zu erspähen, als er irgendeinen Mechanismus betätigte, der die Sprinkleranlage auslöste. Mit zischendem Getöse fing sie an, die Hecke und den dahinter liegenden Rase zu sprengen. Die beiden Männer verstummten augenblicklich, woraufhin derjenige, der einen Turban trug, seinen Krummsäbel zückte und mit raschen Schritten zur Hecke eilte.
„Wer ist da?“, sprach er mit energischem Tonfall, woraufhin Kyu und Drake mit erhobenen Händen aus dem Gebüsch stolperten, obwohl sie gar nicht wussten, warum sie sich vor dem Fremden überhaupt rechtfertigen mussten.
„Was haben Sie in der Hecke zu suchen?“, fuhr der schlanke Mann, dessen gebräunte Haut im Halbdunkel der unterirdischen Stadt noch dunkler wirkte und der ihnen den Säbel zur Unterstreichung seines Arguments weiter entgegen streckte. Kyu schluckte schwer und seine Gedanken ratterten, denn er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Hunderte Antwortmöglichkeiten huschten ihm durch den Kopf. Eine unplausibler und lächerlicher als die nächste. Doch dann regte sich Drake kurz und der blonde Fuchs schwankte zwischen Hoffnung und Angst, dass er die beiden exotischen Männer genauso schnell überwältigen würde, wie er es mit der Gruppe an Jugendlichen zuvor getan hatte. Doch stattdessen kratzte er sich nur ungläubig am Hinterkopf, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach.
Der Mann mit dem Turban musterte ihn perplex, als auch plötzlich sein Begleiter, der sich mit einer Flasche voll goldener Flüssigkeit ein wenig abseits zurückgezogen hatte, unter seinen Sombrero hervorlugte und ihn das fast kreischende Lachen des muskulösen Meermanns einstimmte.
~ Jetzt ~
„Dattel?“, erkundigte sich der Mann, der sich als Safran vorgestellt hatte und reichte Kyu eine der süßen Früchte, die der Fuchs schon einmal auf dem Markt von Kalkutta probiert hatte. Freudig nahm er an, aber als sich der honigsüße Geschmack in seinem Mund ausbreitete, mischte sich eine Bitterkeit dazu, welche ihn kurzzeitig würgen ließ. Es war, als würde die Frucht auch alle Erinnerungen an den Tag zurückbringen, der den Fuchs auch heute noch das Mark in den Knochen gefrieren ließ. Er spürte noch immer das getrocknete Blut und Hirnmark, welches an seiner Stirn geklebt hatte, nachdem der Harlekin den Cafébesitzer vor seinen Augen erschossen hatte.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Safran, nachdem der Fuchs während des Kauens erstarrt war. Der Blonde nickte mit dem Kopf und war froh, dass der Meermann und der Fremde, namens Sancho de Piña, ihr Schwelgen in der Vergangenheit beendet hatten.
„Kyu“, setzte Drake freudestrahlend ein, „darf ich dir Sancho vorstellen? Er ist ein alter Freund von mir“, flötete er glücklich, während er einen Arm um die Schultern des eher schmächtigen Sombreroträgers gelegt hatte.
„Salam. Und woher kennt ihr euch denn, wenn Ihr erlaubt zu fragen?“, wandte sich Safran höflich an der Drake, woraufhin er sich eine nachäffende Geste Sanchos einhandelte.
„Sancho und ich waren früher Kopfgeldjäger, ehe sich der Kerl hier der Marine angeschlossen hat!“, grinste der Meermann freundlich und boxte Sancho gegen die Schulter, der die Geste erwiderte. Safran zog eine Augenbraue nach oben, da er offenbar gerade etwas erfahren hatte, was er vorher noch nicht gewusst hatte, aber anstatt etwas zu sagen, nickte er nur stumm.
„Ja, aber seitdem hab ich von dir auch nichts mehr gehört, Pezador! Wo hast du dich denn die letzten drei Jahre rumgetrieben?“, schmunzelte Sancho, nachdem er einen ausgiebigen Schluck aus seiner Flasche genommen hatte. Kyu hätte sich fast an seinem Dattelstück verschluckt, als er merkte, dass Drakes Gesichtsausdruck sich schlagartig verfinstert hatte. Sie hatten das Thema bisher nie mehr angeschlagen, obwohl es ihn als auch die anderen brennend interessiert hatte, wie lange der Meermann eigentlich im Gewahrsam des durchgedrehten Professors auf dem Archipel gewesen war. Schlagartig wurde dem blonden Fuchsgeist wieder bewusst, dass er ihn und eigentlich auch alle anderen nur halb so gut kannte, wie er glaubte oder wie es vielleicht den Eindruck machte. Schlussendlich waren sie doch alle irgendwie Fremde, zusammengewürfelt durch das Schicksal. Ein Experiment eines übergeordneten Plans, bei dem noch nicht feststand, ob es zum Scheitern verurteilt war.
„Undercover-Auftrag, um einen Unterwelt-Broker hochzunehmen“, erwiderte Drake vollkommen mechanisch mit starrer Miene. Seine himmelblauen Augen hatten Kyu fixiert und mit einem leichten Nicken billigte jener ohne Einwände diese Geschichte. Drakes Gesichtszüge entspannten sich augenblicklich wieder, ehe er Sancho in die Seite knuffte.
„Und was macht die Marine hier in dieser gottverlassenen Hölle aus Stadt und Metall?“
Safran und Sancho wechselten einen kurzen Blick, der absolute Verschwiegenheit signalisierte und fast synchron, als hätten sie diese Antwort auswendig gelernt, antworteten sie: „Routine-Kram! Wir haben eigentlich nur unseren Boss begleitet.“
„Und du?“, brummte der Sombrerorträger, während er sich etwas nervös über den ungepflegten Drei-Tage-Bart kratzte.
„Wir sind hier auf der Suche nach dem Har-“, setzte der Meermann unbedacht an, wurde aber je von Kyu unterbrochen, der versuchte den Meermann mit erhobener, lauter Stimme zu übertönen. „Wir sind auf der Suche nach einem Piraten, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt ist.“
„Achja?“, lächelte Safran offenherzig, aber mit unverhohlener Neugier in der Stimme. Die beiden Schatzjäger hatten derweil intensive Blicke getauscht, wobei sich Drake für seine unüberlegten Worte entschuldigte.
„Jop! Du, Sancho. Es hat mich echt gefreut, dich wiederzusehen. Ich geb dir meine Nummer und vielleicht haben wir nach unseren Aufträgen ja noch Zeit ein Bierchen zu trinken, einverstanden, Bro?“.
Die beiden Marinesoldaten wandten sich zu dem Meermann um und auch ihnen schien bewusst zu werden, dass sie selbst auch schon zu viel zeit vertrödelt hatten. Nach ein paar ausgetauschten Floskeln verabschiedeten sie sich alle voneinander und gingen unterschiedliche Wege.
~ North-Town: Triple-D Casino ~
„Und das Pärchen gewinnt schon wieder“, murmelte die Frau mit der dicken Perlenkette, ehe sie ihre schwabbligen, von Ringen in Schwimmreifenähnliche Sequenzen unterteilten Finger aneinanderpresste, wie es üblich war, wenn jemand anders gewann.
Marc und Sophie grinsten sich an. In der kurzen Zeit, in der sie jetzt zusammenspielten, hatten sie ihren jeweiligen Gewinn schon verdoppelt.
„Das gibt einen schönen neuen Messerblock“, feixte der Koch, als er seinen dritten Beutel nun mit Chips füllte, während Sophie an ihrer Johannisbeerschorle nippte. Sie blickte sich ein wenig verstohlen um und grinste zufrieden, als ein paar Männer in schwarzen Anzügen und mit gleichfarbigen Sonnenbrillen auf sie zumarschiert kamen. Ihre Waffen waren dezent, aber dennoch deutlich sichtbar unter ihren Jacketts versteckt.
„Ich hab schon gedacht, dass wir gar nicht mehr nach hinten gebeten werden“, murmelte sie zufrieden, woraufhin Marc perplex und fragend zu ihr herunter blickte. Doch ehe er etwas sagen konnte, waren die Männer unauffällig zu ihnen getreten und drückten ihnen jeweils den eisernen Schaft einer Pistole in den Rücken.
„Sie scheinen sehr viel Glück zu haben“, zischten sie mit gereizter Stimme.
„Mr. Greedborough würde Sie beide gerne einmal kennenlernen und Ihnen zu Ihrem Gewinn gratulieren“, konstatierte der andere trocken, ehe sie Marc und Sophie ohne ein weiteres Wort abführten. Vollkommen fassungslos lugte Marc zu dem Mädchen mit dem violetten Haar herunter, die seinem Blick aber selbstbewusst standhielt. Wenn sich der Koch nicht täuschte, dann lächelte sie sogar selbstzufrieden.
~ Central City: Onyx Tower ~
Brianna verharrte wie angewurzelt an Ort und Stelle, während sie sich etwas befangen über die Arme streichelte. Sie hatte Kol noch nie so aufgebracht wie in diesem Moment erlebt. Er hatte sich schlagartig ein paar Schritte von ihr entfernt und lehnte nun, gestützt an einen der schweren eisernen Aktenschränke des Polizeibüros, stumm an einer der Wände.
„Du hast doch keine Ahnung! Wir haben uns jetzt schon drei Jahre nicht mehr gesehen. Du weißt nicht, was in der Zwischenzeit alles passiert ist!“, fuhr er sie an, wobei seine Stimme von unterdrückten Tränen seltsam belegt und gedämpft klang. „Du hast das Hölleninferno vor vier Jahren nicht erlebt. Die Hilflosigkeit der Menschen.“
Die Rothaarige musste dem starken Drang widerstehen, zu dem Kurator zu gehen und ihn einfach in die Arme zu nehmen und ihm zu zuflüstern, dass alles wieder gut werden würde. Stattdessen verharrte sie stumm an Ort und Stelle, bereit, als Blitzableiter für die Wut Kols zu dienen, die nun wie ein entfesseltes Gewitter über sie hereinbrach.
„Seit diesem Tag...seit dem Tod all dieser Menschen, versuche ich gegen all das Unrecht zu kämpfen, dass dieser Stadt widerfahren ist! Verstehst du das?! Ich muss diesen Kampf führen, weil alle, die ich kenne, aufgegeben haben! Die Polizei hat aufgegeben, die Politiker haben aufgegeben. Niemand interessiert sich mehr dafür, dass diese Stadt vor die Hunde geht. Niemand beweint die Toten! Und diejenigen, die daran Schuld haben, sitzen immer noch an oberster Stelle!!“
Kol hatte sich während seiner Tirade durch den ganzen Raum bewegt und sich nun Haare raufend auf dem Stuhl niedergelassen, auf dem zuvor Brianna gesessen hatte. Das Gewitter war verebbt, aber der Himmel war nicht aufgezogen. Dunkle Wolken, aus denen Tränen der Verzweiflung flossen, verdeckten noch immer das Firmament.
„Meinst du Charles Winchester?“, hauchte Brianna den Namen, den sie in der Akte des Polizeiinspektors Abberline gelesen hatte, mit solcher Zerbrechlichkeit, dass es Kol den Rest gab und er nur noch schluchzend nickte. Die Rothaarige wollte einen Schritt auf ihn zumachen, aber Kol hatte sich blitzschnell die Kapuze übergezogen und legte sich seine Hand aufs Gesicht. Als er den Kopf hob, prangte etwas gold-bräunlich glänzendes auf seinem Gesicht. Es war eine Art Maske, die den Zügen eines brüllenden Löwen nachempfunden war. Einzig die lindgrünen Augen und die verzaubernden, vollen Lippen konnte man unter ihr erkennen, die das restliche Gesicht in Dunkelheit hüllte.
„Brianna, du hast gesagt, dass ich kein Mörder bin und vielleicht hast du recht, aber der nemëische Löwe ist es“, erwiderte er mit einer Stimme, die so abgebrüht klang, dass es der Schatzjägerin eine Gänsehaut wie nach einem Hagelschauer im Hochsommer über die nackte Haut jagte. Er stürmte bereits zu dem zerstörten Fenster, aber irgendetwas rührte sich in Brianna und ehe sie es sich versah, war sie zeitgleich mit ihm dort und fasste ihn an der Schulter.
„Warte!!“
Ihr Herzschlag raste, aber sie hatte einen Entschluss gefasst. „Ich habe dir etwas versprochen! Ich heiße es vielleicht nicht gut, aber ich kenne dich, Kol, und daher werde ich dich begleiten!“
Brianna konnte nicht erkennen, ob Kol unter seiner Löwenmaske lächelte oder nicht, aber er umfasste ihre Taille und stieß sich wieder vom Fenstersims ab.
Ich weiß nicht, woher dein ungebändigter Hass kommt, aber ich weiß, dass es nicht schlimmeres gibt, als sich von ihm verzehren zu lassen. Ich werde nicht zulassen, dass er dich beherrscht. Dass das Blut dieses Mannes an deinen Händen kleben wird! Ich werde dich aufhalten, auch, wenn du mich danach vielleicht nicht mehr sehen willst!
~ West-City: Moral Lane ~
Inspektor Harvey Benner, der von all den Polizisten nur ‚Beef’ genannt wurde, lächelte krumm, als er erkannte, wie sich die beiden Marinesoldaten von dem Fischmenschen und dem Fuchs trennten. Beef war mindestens zwei Meter groß und schaffte es, durch Muskelmasse wohl auf ähnliche Maße in der Breite zu kommen. Dennoch trug er stets einen dunkelgrauen Anzug wie es sich für einen Inspektor des COPD’s gehörte. Sein Kopf war kahl rasiert und er schämte sich keineswegs für seine fehlende Haarpracht.
„Die zwei zu finden, war ja leichter als gedacht“, schmunzelte er und griff nach seiner Teleschnecke, die er neben seiner Waffe am Holster verstaut hatte.
„An die Einheit 32b, Zielpersonen gesichtet, Zugriff!“, funkte er, schaltete die Teleschnecke aus und ließ sie wieder an ihren angestammten Platz wandern. Daraufhin setzte er sich eifrig in Bewegung, um den Anschluss an seine beiden Zielpersonen nicht zu verlieren.
Währenddessen schlenderten die beiden Schatzjäger die Moral Lane entlang, während Drake – angeregt durch sein Wiedersehen mit seinem Bekannten – aus dem Redefluss über alte Aufträge gar nicht mehr herauskam.
„Was war dein größter Fang, den du mal als Kopfgeldjäger gemacht hast?“, erkundigte Kyu sich mit strahlenden Augen, der zwar um die Vergangenheit des Meermanns gewusst hatte, aber dennoch nach dem ganzen Durcheinander auf und in Folge des Aurora Archipels dieses Thema nie angeschnitten hatte. Als Drake seine Frage hörte, schloss er kurz die Augen und seine Stirn legte sich in Falten, als ob er sich wirklich angestrengt konzentrieren müsste.
„Ich glaube, dass das ein Rookie aus dem East Blue war vor fünf Jahren oder so. Frag mich aber nicht nach dem Namen. Die 180.000.000 Berry sind das einzige, woran ich mich erinnere“, zwinkerte der Meermann ihm zu, ehe er sich an den Bauch fasste. Beinahe synchron ließ jener ein verzweifeltes Knurren hören. Der Fuchsgeist überging dieses, fast schon selbstverständliche Hungergefühl des Meermanns. Zu stark hatten die Geschichten des Meermanns seine Neugier beflügelt.
„Und welchen Fang, der dir durch die Finger geglitten ist, bereust du am meisten?“
„Wer sagt, dass mir ein Auftrag durch die Finger gegangen ist?“, scherzte Drake, ehe er fast automatisch fortfuhr. Offensichtlich musste er sich hierbei nicht anstrengen.
„Ich hatte vor ungefähr zehn Jahren einen Piratenkapitän aufgespürt, der zu dem damaligen Zeitpunkt ein Kopfgeld von 320.000.000 Berry hatte. Seine Auslieferung an die Weltregierung hätte mein großer Coup werden können, um endlich in der Creme de la Creme der Schatzjäger anzukommen. Leider hat mir die Regierung diesen Auftrag selbst vermasselt“, seufzte Drake und zuckte mit den Achseln.
„Wer war es?“
„Ich weiß nicht, ob der Name dir etwas sagt. Gecko Moria?“
Vollkommen perplex blieb Kyu stehen und musterte den Meermann mit geweiteten Augen.
„Der Gecko Moria? Das Mitglied der Sieben Samurai???“
Irritiert von der großen Überraschung in Kyus Stimme, hob er die blonden Augenbrauen.
„Ja genau den. Seine Ernennung hat zwei Jahre an Planung und Arbeit zu Nicht gemacht. Das Geld hatte ich mir eingeplant...das waren ein paar Hungermonate danach. Ich musste sogar auf Gemüse zurückgreifen“, jammerte er, woraufhin Kyu herzlich lachen musste. Es amüsierte ihn einfach zu sehr, dass der Kopfgeldjäger die Tatsache, ein berüchtigtes Mitglied der Sieben Samurai beinahe geschnappt zu haben, unwichtiger einstufte, als die Tatsache, dass er Gemüse essen musste. Sein Lachen hallte noch durch die Gasse, als seine spitzen Ohren wieder etwas vernahmen. Seine Schwanzspitzen entflammten noch, ehe er den eisernen Schädel auf sich zurasen sah. Er wollte Drake noch warnen, aber da war der Zinnsoldat bereits bei ihm, mit erhobenem Säbel, schnappte sein zermalmender Kiefer nach ihm. Er sprang hoch und sah, dass sich zwei weitere dem Meermann in den Weg gestellt hatten.
„Was wollen die von uns?“, fauchte Kyu Drake zu, der nur die Schultern zuckte und mit gespielter Leichtigkeit den Schwerthieben der Soldaten auswich. Den kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit bezahlte Kyu, denn sein Zinnsoldat hatte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit und unter dem Geräusch von ächzendem Metall vom Boden abgestoßen und befand sich nun genau auf Augenhöhe. Dem Säbelhieb konnte der Fuchsgeist zwar noch mit einer Rolle im Fall ausweichen, aber dem freien Arm des Soldaten war er schutzlos ausgeliefert. Mit voller Wuchte wurde er von der eisernen Faust des Gesetzes auf den Boden zurück gerammt. Der Aufprall nahm ihm die Luft zum Atmen. Drake wandte sich mit zu Schlitzen verengten Augen zu Kyu um, der sich nur mühsam aufrappelte. Er wirbelte herum, sammelte ein wenig Wasser in seiner Handfläche und schickte die Tropfen mit gezielter Präzision auf eine der Soldaten.
„Nehmt doch ein wenig Wasser, ihr verrosteten Blechbüchsen“, jubelte er zufrieden, als er sah, dass die Geschosse ein kleines Loch in den Rumpf des Zinnsoldaten gerissen hatte und nun einen Einblick auf sein Inneres freigab. Anstatt von Organen und Blut offenbarten sich Zahnräder, Öl, Schrauben und das hektische Aufblitzen von elektrischen Funken. Schadenfroh stellte der Meermann fest, dass seine Attacke die ominöse Technik des Soldaten gestört hatte. Er wollte sich gerade dem anderen widmen, als er das Räuspern vernahm, welches sich anhörte, als wäre es den wütenden Nüstern eines Stiers entwichen.
„Ich würde mich an deiner Stelle jetzt nicht mehr rühren, oder ich zerquetsche den Schädel deines Haustieres wie eine überreife Grapefruit und mache mir aus seinem Fell einen netten Muff, Fisch!“
Salvador knirschte mit den Zähnen, als er widerwillig die Arme hob und sich zu dem Unbekannten umdrehte, der Kyu in seinem Schwitzkasten hielt. Der Blonde schien gar keine Luft zu bekommen und der Meermann war sich sicher, dass er bereits blau angelaufen wäre, wenn er sich jetzt in seiner menschlichen Form befinden würde.
„Festnehmen!“, bellte der Berg von einem Mann und sofort schnellte der Soldat vor und legte dem Fischmenschen gleich mehrere Ketten um den Körper. Die Dinger waren verdammt schnell, stellte Salvador fest, ehe er sich wieder dem Unbekannten zuwandte.
„Zwei Sachen“, flötete er im Plauderton. „Erstens: Würdest du meinen Freund vielleicht loslassen? Ich weiß ja nicht, ob du eine Schuldbildung genossen hast, aber Säugetiere – zu dieser Gattung gehört mein pelziger Kollege da – brauchen Sauerstoff zum Atmen...also, das ist das, was man mit dem Mund macht. Er ist ja keine Pflanze oder so, die Photosy-“, fuhr er fort, aber der Mann war bereits vorgeschnellt, hatte Kyu derweil dem Soldaten übergeben und schlug ihm mit so brachialer Gewalt ins Gesicht, dass Drake durch die Luft segelte und gegen eine Steinmauer prallte, von der Putz und Ziegel rieselten. Der Mann baute sich wie ein Bulle vor ihm auf und spukte auf die Faust, die er mit einem Schlagring verstärkt hatte.
„Du redest nur, wenn ich es dir erlaube. Gefangener, klar? Abführen!!“, bellte er erst Drake und dann die Zinnsoldaten an, die sich eifrig an die Arbeit machten, die beiden Bündel aufzuheben und abzutransportieren. Drake, der das unangenehme Gefühl hatte, dass ihm ein paar Zähne locker waren, leckte sich das Blut aus den Mundwinkeln, welches dort in kleinen Rinnsalen auf sein weißes Shirt tropfte.
„Zweitens: Auch, wenn ich die Vorstellung in Ketten gelegt zu werden – vorzugsweise durch eine hübsche Lady – gar nicht so schlecht finde, dürfte ich erfahren, warum wir überhaupt verhaftet werden, Glatzkopf?“, zischte Drake und auch, wenn nur Kyu ihn hören konnte, lächelte er schwach, während sie durch die Dunkelheit Clockwork Oranges getragen wurden.
~ Midtown ~
„Guten Abend, Mister McOre“, begrüßte der Pförtner den Jungen, der die gläsernen Drehtüren des mehrstöckigen Hauses betreten und durch die Eingangshalle geschlendert kam. Die elektrischen Lampen tauchten den gesamten Raum, der mit glänzendem Marmor ausstaffiert war, in ein seltsam mystisches Licht. Der Junge hätte am liebsten seine Pinsel ausgepackt und die Szenerie gezeichnet. Stattdessen neigte er den Kopf ein wenig zur Seite und blickte den jungen Mann hinter dem Tresen tadelnd an.
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass sie mich einfach Pentheus nennen können und nein, ich brauche keine Begleitung nach oben“, fügte er mit charmantem Lächeln hinzu, als der Pförtner ihn zu dem Paternosteraufzug führen wollte. Seufzend stieg er ein, wobei sich sein Herzschlag gleich beschleunigte.
Ich hoffe einfach, dass er nicht da ist. Immerhin ist das meine Wohnung. Warum sollte ich überhaupt ein Problem damit haben, wenn ich ihn störe?
Er schob das Gitter bei Seite und ließ den Schlüssel in das Loch gleiten. Das mechanische Klicken, wenn die Zylinder griffen, ertönte und während er noch einmal Luft holte, öffnete er die Tür. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er die Wohnung in Dunkelheit vorfand. Alle Lichter waren gelöscht und selbst im Dunkeln fand Pentheus den Lichtschalter. Sein Blick fiel auf den großen Spiegel in der Eingangshalle. Er sah müde aus, abgespannt, bemerkte er, als er die rosafarbenen Locken ein wenig zurecht zupfte.
Immerhin ist er noch nicht da. Er wird wohl wieder unterwegs sein. Er war die letzten Tage immer Nachts unterwegs...
Er ließ den Schlüssel in die Schale fallen und stellte seinen künstlerischen Bedarf an die Wand, ehe er sich alle Klamotten auszog und zur Dusche ging. Er musste sich die Müdigkeit und den Schmutz des Pumpkin Squares einfach von der Haut waschen, dann würde es ihm bestimmt besser gehen.
~ North-City: Triple D Casino ~
Mit einem schraubstockartigen Griff wurde Marc in den schwarzen Ledersessel gedrückt und wenn man ihm nicht die Hände mit Kabelbinder gefesselt hätte, wäre er sofort aufgesprungen und hätte den Sicherheitsbeamten des Casinos am liebsten die Zähne eingeschlagen. Stattdessen biss er sich so kräftig auf die Lippen, dass er Blut schmeckte, da er wusste, dass diese Menschen nicht mit sich reden ließen. Sophie indes saß mit völlig gelassenem Gesichtsausdruck neben ihm und allmählich schien das Mädchen ihm Angst einzujagen. Jedes andere Mädchen hatte zumindest protestiert. Kurz kam dem Braunhaarigen der Gedanke, dass sie vielleicht nicht wusste, was Betrügern im Normalfall blühte. Er schluckte laut und plötzlich juckten die Handgelenke seines gesunden Arms, als er daran dachte, dass man ihm die Hände abschlagen würde. Als hätte er noch einen Ansporn für seine Fantasie benötigt, entdeckte er die beiden gekreuzten Samuraischwerter, die dort an der Wand hingen und nur danach lechzten, ihm Fleisch, Sehnen, Adern und Nerven zu durchtrennen.
„Wieso bist du so ruhig?“, zischte der Koch aus den Mundwinkeln, als die beiden Sicherheitsbeamten in ein flüsterndes Gespräch vertieft waren. Sophie reckte kaum merklich den Kopf und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Der beste Weg, um in das Büro eines Casinos zu gelangen, ist beim Betrügen erwischt zu werden, oder?“, schmunzelte sie wissend, was Marc Anlass genug war, dieses Mädchen als vollkommen übergeschnappt einzustufen. Er war sich sogar sicher, dass ihr vollkommen bewusst war, wozu die beiden Schwerter an der Wand dienen sollten. Doch er kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn die Tür öffnete sich, aber es war nur der Sicherheitsbeamte, der den Eingang zum Büro bewacht hatte, der die beiden anderen mit einem Kopfnicken zu sich orderte. Gemeinsam verließen sie das Büro und ließen die beiden Gefangenen zurück. Sofort fing Marc damit an, sich aus seinen Fesseln zu lösen, womit er aber sofort inne hielt, als er bemerkte, dass Sophie sich keinen Millimeter bewegte.
„Kind?! Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Warum versucht du nicht, dich zu befreien?“
„Warum sollte ich mich denn befreien?“, erwiderte sie. Marc hätte sich am liebsten mit der freien Hand gegen die Stirn geschlagen, sich die Haare ausgerauft und überlegte einen Augenblick, ob er sein Schicksal nicht akzeptieren sollte, nur um die Genugtuung zu erleben, wie diesem psychedelischen Mädchen die Hände abgehackt werden sollten. Weiter sollte er in seinem Gedankenspiel nicht kommen, denn die Tür öffnete sich erneut, aber dieses Mal schob sich keiner der Sicherheitsbeamten durch die Tür, sondern ein drahtiger Mann mit schlohweißem Haar und einem wilden Blick in den Augen. Er musterte Sophie und Marc mit zufriedenem Interesse, ehe er die Hand auf die beiden Schwerter legte, die er am Gürtel seiner Anzugshose befestigt hatte.
„Da hat er sogar seine eigenen Schwerter mitgebracht. Ist das der Casinobesitzer?“, wandte sich Marc mit Galgenhumor an Sophie und erst war ihm nicht klar, warum sie nicht antwortete, aber da erkannte er, dass sie in absoluter Panik erstarrte war. Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie zitterte wie verrückt.
„Nein, ich bin nicht der Casinobesitzer“, wisperte der Mann auf einmal, woraufhin Marc ihn mit verengten, meergrauen Augen fixierte. „Mein Name ist Silas! Ich bin Mitglied der Cipherpol Nummer Acht und ich werde euch nun vor das göttliche Gericht führen!“, zischelte er, wobei die Wildheit sich nun auch in seine Worte legte, obwohl er absolut ruhig und beinahe sanft sprach.
~ South-City: Cutters Pub ~
Diffuses Licht der Gaslaternen fiel durch die dreckigen Fenster, während sich Paare von Staubpartikeln dazu aufrafften, sich gegenseitig im fahlen Licht zu jagen. Ihr Blick war glasig und nur mühsam konnte sie ein Gähnen unterdrücken, als sie den mausgrauen Lappen in den Wasserkübel tauchte.
Monoton und freudlos wischte Barbara dabei über den Tresen. Versuchte ihn zu säubern von den Überresten eines ganzen Abends – Alkohol, Blut und Essensreste. Ihr lockiges, rostrotes Haar schien genauso schmutzig und unrein zu sein wie die Fenster, der klebrige Boden oder die trüben Biergläser.
Ihre Hände zitterten vor Müdigkeit und Erschöpfung, als sie die schweren Barhocker auf den hölzernen Tresen hievte, um den Boden zu wischen. Missbilligend wanderten ihre Augen, welche dieselbe trostlose graue Farbe hatten wie ihr Wischlappen, zu der skurrilen Gestalt, die der letzte Gast war, ehe sie ihren verdienten Feierabend beginnen konnte. Wie sehr sie es hasste, wenn das Gesindel, welches ihre Bar aufsuchte, einfach nicht gehen wollte. Sie wollte allein sein. Allein mit dem Schmutz. Allein mit sich selbst. Allein in ihrer trostlosen Bar, die ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war. Sie ließ das Geschirr bereits besonders laut in die Geschirrspülmaschine wandern, aber der seltsame Fremde ließ sich davon keineswegs aus dem Konzept bringen. Sie musterte ihn eindringlich, wobei sie sich augenblicklich die Frage stellte, aus welchem Gruselkabinett diese Person ausgebrochen war. Sein Gesicht hatte er sich kalkweiß geschminkt, was im absoluten Kontrast zu seinen neongrün gefärbten Haaren und dem exzentrischen Zylinder stand, welcher mindestens doppelt so hoch wie sein Kopf war. Zudem trug er einen zerfledderten Mantel, der an jeder dritten Stelle mit bunten, schrillen Flicken genäht war. Als hätte er sie ertappt, wandte der Mann sein bleiches Gesicht ihr zu, wobei sie erst bemerkte, dass seine Augen fast die gleiche Augenfarbe wie seine Haare besaßen. Er lächelte ihr freundlich zu und hob seine Tasse.
„Noch eine Tasse Tee?“, brummte sie resigniert, woraufhin der Mann ihr mit vollkommener Freundlichkeit zu nickte und sogar den Zylinder hob.
„Ich bin noch am Rande des Wahnsinns, wenn das so weiter geht“, murmelte Barbara und stellte das Wasser auf die Herdplatte, als plötzlich ein Trommeln von Fingernägeln auf dem schmutzigen Tresen zu hören war. Die Barfrau hätte fast die Porzellantasse fallen lassen, als ihr Kunde mit strahlendem Lächeln und geweiteten, grünen Augen direkt vor ihr stand.
„Was haben Sie da gesagt?“, sprach er mit zuckersüße Stimme.
„Wie bitte?“
„Gerade eben. Da haben sie etwas gesagt. Würden sie es noch einmal wiederholen?“
„Ähm..also ich habe gesagt, dass ich am Rande des Wahnsinns bin....“, wiederholte Barbara ihre Worte widerwillig, denn das freundliche Strahlen des Gastes bereitete ihr Unbehagen und jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
„Naja, immerhin sind Sie am Rande, da nehmen sie nicht so viel Platz weg!“, erwiderte er und einen kurzen Augenblick herrschte Stille, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach, was zu einem regelrechten Lachanfall ausartete, der sich darin äußerte, dass sich der Grünhaarige den Bauch hielt, Tränen weinte und mit der behandschuhten Hand immer wieder auf den Tresen klopfte. Barbara umklammerte ihren Putzlappen und konnte die Erleichterung nicht in Worte fassen, als das Wasser des Teekessels, den sie auf die Flamme gestellt hatte, pfiff.
~ * ~
Das Türklingeln der Bar ertönte und neugierig hob der Kunde mit dem riesigen Zylinder den Kopf. Doch ehe er etwas hören konnte, drangen schon die Stimmen zweier Mädchen durch die ansonsten leere Bar.
„Theophilus? Bist du da?!“
Die Aufzugtüren glitten auseinander und Shallow setzte einen bestimmten Schritt in ihre Wohnung, die in vollkommener Dunkelheit lag. Die Wut kochte in ihr immer noch ihren toxischen Sud, der ihr Zornestränen in die grünen Augen trieb. Sie pfefferte mit aller Wucht ihren Schlüsselbund in die teure Glasschale, sodass ein klirrendes Geräusch ertönte, bei dem Shallow einen kurzen Augenblick fürchtete, dass die Schale einen Sprung bekommen hätte. Sie hatte ihren dunklen Mantel an den Haken gehängt, als sie ein Geräusch in der Wohnung vernahm. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus und sie strich sich das lapislazuliblaue Haar hinter die Ohren, während sie den Lichtschalter für das geräumige Wohnzimmer suchte, von dem man einen wundersamen Blick auf den Pumpkin Square hatte. Ihr Puls raste immer noch, als sie panisch versuchte, jeden einzelnen Winkel des Wohnzimmers auf einmal zu erhaschen. Ihre Augen sprangen vom Sofa, zur Garderobe und zu den Vorhängen, die man zuziehen konnte, um neugierige Blicke in den Raum auszusperren. Sie lächelte erleichtert und kam sich beinahe ein wenig kindisch vor, als sie niemanden entdeckte.
„Pentheus? Bist du da?“, fragte sie dennoch zögerlich in die Dunkelheit der angrenzenden Räume, obwohl sie selbst nicht wusste, woher ihre plötzliche Besorgtheit rührte. Alle Fenster waren verschlossen und ohne den Schlüssel konnte man das Haus gar nicht betreten, sofern man am Sicherheitspersonal überhaupt vorbei kam, welche die Bewohner des Apartmentkomplexes in und auswendig kannten. Der rosafarbene Junge antwortete nicht, obwohl dies nichts zu bedeuten hatte. Er kam oft tagelang nicht nach Hause. Trieb sich in der Stadt rum oder malte. Vor ein paar Wochen hatte sie ihn dabei erwischt, wie er seinen Rucksack gepackt hatte, um ein paar Tage an der Oberfläche zu bleiben, um die Aschefelder der Toten Stadt zu zeichnen. Auch wenn diese Erinnerung mit dem Gedanken an einen heftigen Streit zwischen ihnen verbunden war, musste die Frau mittleren Alters plötzlich unweigerlich beim Gedanken daran an den Jungen denken.
Du nennst ihn immer noch Junge. Derweil ist er schon neunzehn und wohl alles andere als ein Kind. Es kommt mir dennoch vor wie gestern, als er geboren wurde...
Sie hatte sich ein Glas Rotwein eingeschenkt, denn nach kurzer Zeit war die Wut auf Abberline wieder wie das unausblendbare Meeresrauschen in ihr erwacht und hatte sich mit bitterer Stimme zurückgemeldet. Während sie gedankenverloren die Post durchsah, spulte die Teleschnecke die Nachrichten ab, die man für sie auf dem Band hinterlassen hatte. Neben ein paar Anfragen des News Q für ein Interview und einem Anruf der Reinigung, dass ihre Kleidung abgeholt werden konnte, ertönte plötzlich eine ölige Stimme in ihrer Wohnung, die Shallow jedes Mal einen Schauer über den langen Rücken laufen ließ. Instinktiv zog sie den Gürtel ihres seidenen Morgenmantels, den sie gegen ihren strengen Hosenrock eingetauscht hatte, fester um ihre Taille.
„Schönen Abend, Shallow. Wie du heute wohl gemerkt hast, konnte ich der Sitzung des Bürgermeisters nicht beiwohnen, aber ich glaube, dass dir das gar nicht mal so unrecht war. Was sagst du denn zu dem neuen Wohltäter, den uns der Bürgermeister andrehen will? Ruf mich doch mal an. Ich denke, dass wir uns in Angesicht dessen, was da noch auf uns zu kommen mag, vielleicht doch zusammen tun sollen...egal, was in der Vergangenheit passiert ist. Du weißt ja, wo dich mich finden kannst...und...naja...grüße meinen Sohn von mir. Grüße Charles!“
„Einen Teufel werde ich“, zischte Shallow, die vor kalter Wut am liebsten ihr Rotweinglas gegen die Wand gedonnert hatte, aber da zeigte ihr das Piepen der Teleschnecke, dass noch eine weitere Nachricht auf dem Anrufbeantworter verzeichnet war. Die Stimme, die sich nun meldete, ließ ihre Wut augenblicklich wie Rauch verdampfen, obwohl ihr Besitzer sie ebenfalls zornig gemacht hatte. Vielleicht waren es aber auch diese unbeholfenen Worte Fredericks, die sie einerseits die Wände hochgehen ließen und im anderen Moment in eine zahme Katze verwandelten.
„Hey Shal, du hattest Recht. Wenn sich wirklich die SALIGIA bei uns einmischt, dann ist das zu groß für mich, für Beef und das ganze COPD, aber auch deine Zinnsoldaten werden nichts ausrichten können!...und bevor du jetzt gleich wieder sauer wirst und am liebsten deine Teleschnecke anschreien würdest, ich habe eine Lösung! Du weißt, dass ich der letzte bin, der zulassen kann, dass dieser Stadt wieder etwas passiert wie vor vier Jahren, aber ich habe einen Plan....du musst mir einfach nur vertrauen, McOre, okay?“
Shallow lächelte, auch wenn sie es erst einen Augenblick später merkte. Abberline hatte recht gehabt, in dem Moment, als er widersprochen hatte, war sie kurz davor gewesen, die Teleschnecke in ihrem Weinglas zu ertränken, aber die Worte hatten die Zornesglut in ihrem Inneren ersticken lassen. Während sie sich fast jugendlich auf die spitz gefeilten und perfekt lackierten Fingernägel biss, konnte sie dieses selige Lächeln einfach nicht aus ihrem Gesicht streichen.
Natürlich vertraue ich dir Abberline...du tollkühner Trottel...
Vielleicht war es ihre Liebestrunkenheit und diese selige Wärme, die sich in ihr ausgebreitet hatte, dass ihr der folgende Schock nur noch umso heftiger vorkam. Doch die fremde Stimme der Frau, die urplötzlich, unvermittelt und ohne jede Vorwarnung im Raum ertönte, ließ Shallow buchstäblich zur Salzsäule erstarren. Ihre Augen glitzerten in pechschwarzer Dunkelheit des anderen Raumes, aber die Geschäftsfrau meinte etwas silbern und grünlich aufblitzen zu sehen.
„Na, da wird mein Boss aber gar nicht erfreut darüber sein, dass ihr Freund etwas gegen die SALIGIA unternehmen wird“.
Die Worte der Frau waren wie Messer, die sie ihr mit honigsüßer Perversion in die von Angstschweiß benetzte Haut trieb. Shallow hatte immer geglaubt, dass sie ein Mensch war, die der Angst ins Gesicht lachte, selbst wenn sie sich von hinten an sie anschlich. Dass sie eine Frau wäre, die sogar nachts durch die gefährlichsten Viertel der unterirdischen Stadt gehen könnte und dabei nicht auf die schützende Schulter eines Mannes angewiesen wäre. Doch jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als dass Abberline hier wäre und verfluchte den Moment, in dem ihr und sein Stolz sie im Streit hatte auseinandergehen lassen.
„Das ist wirklich eine schöne Wohnung. Ich bin richtig neidisch auf ihre Innenausstattung“, sprach die Frau in lockerem Ton weiter, als wären sie alte Freundinnen, die sich nach vielen Jahren der schmerzlichen Trennung endlich wiedersehen. Dabei verharrte sie jedoch noch immer in der Dunkelheit und Shallow merkte, dass ihre Hand zu zittern begann, wodurch die weinrote Flüssigkeit gefährlich an den Rändern hochschwappte. Was sie und wohl jeder andere Mensch mit gesundem Menschenverstand wahrscheinlich als Zeichen der Schwäche gedeutet hätte, interpretierte die Blauhaarige als Zeichen der Stärke. Als ein Beweis, dass sie die Kontrolle über ihren Körper zurückerlangte. Sie wusste, dass ihre Vergangenheit sie zu etwas besserem, etwas stärkerem erzogen hatte. In diesem Moment trat die Frau ins Licht und ihre giftgrünen Lippen verzogen sich zu einem abstrakten, süffisanten Lächeln.
~ Silvester 1517/1518 Anno Maris: New Duchess Court/Liberty Bourbon ~
Shallow keuchte auf und presste dabei instinktiv ihre Hand auf seinen Mund, als wäre er daran Schuld, dass die Lust sie übermannt hatte und sie es nicht mehr zurückhalten konnte. Neckisch biss er in ihren Finger, woraufhin sie die Beine um ihn schlang, um ihn so näher zu sich zu ziehen. Sie fuhr ihm durchs dunkle Haar, zeichnete seine Lippen nach und streichelte ihm über die glatt rasierten Wangen.
„Habe ich schon gesagt, dass ich dir zu Beförderung gratuliere, Inspektor?“, lächelte sie, während ihre ellenlangen blauen Haare über das komplette weiße Kopfkissen ausgefächert waren, ehe sie sich an seinem Hals ein wenig nach oben zog und ihm verführerisch ins Ohr hauchte:
„Wollen sie mich jetzt verhaften, Officer?!“
Sie legte die richtige Mischung aus femininer Zerbrechlichkeit und erotischer Aufforderung hinein, die ihm absolut den Kopf verdrehte. Er griff ihr ins Haar, zerrte sie näher zu sich und biss ihr liebevoll, aber bestimmt in den Hals. Die Blauhaarige wünschte, dass diese Momente nie aufhören würden. Das sie diese gemeinsamen Stunden mit Frederick unbeschwert genießen konnte. Als hätte er ihre dunklen Gedanken erahnt, hob er sie vom Bett und trug sie mit kräftigen, muskulösen Armen zur Tür, wo er sich in heißer Vereinigung ihrer Körper gegen das dunkle Holz presste. Er strich ihr das verschwitzte Haar aus dem Gesicht, während sie die rotlackierten Nägel in tiefen Furchen über seinen Rücken wandern ließ. Sie bekam dabei seine Polizeimarke zu fassen, die er wohl im Eifer des Gefechts nicht abgeworfen hatte.
Inspektor Frederick Abberline – NDCPD, las sie schmunzelnd, ehe Frederick sich noch einmal aufbäumte und sie dieses Mal weder die Schreie unterdrücken, noch ihm eine Hand auf die Lippen pressen konnte. Gemeinsam sackten sie seufzend an der Tür entlang und Abberline küsste noch einmal sanft ihre Lippen, ehe er sie zurück aufs Bett legte. Behutsam als wäre sie zerbrechlich, oder als ob er den gemeinsamen Moment nicht durch eine unbedachte Handlung zerstören wollte. Als er sich aufrichten wollte, merkte Shallow, dass sie immer noch die Hände um die Marke gekrampft hatte, wodurch die kalten Kettenglieder in seinen Nacken schnitten.
„Oh entschuldige“, keuchte sie ein wenig außer Atem, aber Frederick blinzelte ihr mit seinen warmherzigen Augen zu. Augen, bei denen sich Shallow nicht vorstellen konnte, dass sie einer Fliege etwas zu Leide tun könnten.
„Glaubst du, dass dein Vater mich jetzt eher akzeptieren würde, wo ich der Krone fast unmittelbar diene“, murmelte er mit seiner tiefen Stimme, die im scharfen Kontrast zu seinen gutherzigen Augen stand und bei der sich die Blauhaarige schon eher vorstellen konnte, dass er Vertreter des eisernen Gesetzes wäre. Abberline hatte sich bereits die dunkelbraune Hose angezogen und die Hosenträger über die nackten Schultern gestreift, ehe Shallow ihm keck musterte und ihre schuldige Antwort gab.
„Du wärest meinem Vater wohl nicht einmal dann recht, wenn du Milliardär und mit blütenreiner Weste auf einem weißen Schimmel daher geritten kommen würdest.“
In ihrer Stimme klang neben der offensichtlichen Belustigung auch eine tiefe Bitterkeit mit, die sich bei den folgenden Worten des Inspektors nur weiter entfachte.
„Stimmt. Ich bin ja nicht Charles Winchester“.
Shallow konterte diese Worte mit einem eisigen Blick, der Abberline inne halten ließ. Die Blauhaarige merkte, dass die Stimmung zu kippen drohte, weswegen sie ihre Gesichtszüge entspannte und nach dem weißen Hemd griff, welches der Polizeiinspektor sich gerade schnappen wollte. Sie fand es immer noch gleichermaßen befremdlich, wie amüsant, dass Abberline sich, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, immer anziehen wollte. Während sie am Liebsten den ganzen folgenden Tag nackt verbracht hätte.
„Das brauch ich noch“, schmunzelte Abberline und kämmte sich die dunklen Haare nach hinten, deren grau-silbernen Schimmer er geschickt zu kaschieren versuchte.
„Nicht, wenn wir noch eine zweite Runde starten“, stellte Shallow in den Raum, streckte die schlanken, gebräunten Beine in die Luft und ließ ihren Kopf kokett über das Bettende baumeln, sodass sich ihre blaue Haarpracht wie ein leuchtender Teppich aus flüssigen Saphiren ausbreitete.
„Wir sollten uns lieber fertig machen“, meinte Frederick analytisch, erhob sich von dem kleinen Hocker, auf dem er Platz genommen hatte und ging an Shallow vorbei, um durch die Vorhänge einen Blick nach draußen zu werfen. „Es ist fast Mitternacht und du willst ja nicht, dass uns jemand zusammen sieht.“
Obwohl in seiner Stimmung keinerlei Wertung oder der Hauch eines Vorwurfs lag, hatte Shallow auf einmal das inhärente Gefühl sich rechtfertigen zu müssen, aber da ertönte der erste Knall, der sie inne halten ließ. Fast instinktiv hatte sie sich das Hemd übergeworfen und knüpfte es zu, obwohl es ihr fast bis zu den Knien reichte.
„Ist das schon das Feuerwerk?“, entgegnete sie, nachdem sie sich auf die Zehen gestellt und ihren Kopf auf Abberlines Schulter abgelegt hatte. In diesem Moment ertönte ein weiterer Knall, gefolgt von einem elektrisieren Glimmen und einen Sekundenbruchteil später zersplitterte das Fenster, vor dem sie standen, mit ohrenbetäubendem Klirren. Entsetzt schrie Shallow auf, aber der Inspektor hatte sich bereits über sie geworfen, um sie vor dem Scherbenregen zu schützen. Sofort danach stürzte Abberline zum Beistelltisch neben dem offenen Kamin, wo seine Dienstwaffe lag. Dabei konnte er gerade nach Shallow ausweichen, die aus der Küche zurückgerannt kam.
„Ich hab Waffen geholt“, schrie sie ihm zu, als er sich verblüfft im Raum umsah und die Blauhaarige mit einer Schrotflinte bewaffnet entdeckte. Kalte Luft wehte durch die zerbrochene Scheibe herein. Shallow trat die restlichen Glasscherben aus dem Fensterrahmen, dankbar für die dicken Sohlen ihrer Stiefel, die sie im Eifer des Gefechts übergeworfen hatte. Dann duckte sie den Kopf, sprang durch die gähnende Öffnung und landete hart auf dem Gehweg hinter dem Haus.
Die Straße schien auf den ersten Blick leer zu sein. Entlang des Kanals gab es keine Laternen und das einzige Licht, das auf den Weg fiel, stammte aus den Fenstern eines nahe gelegenen Hauses. Vorsichtig bewegte Shallow sich vorwärts, während sie die Schwere der Waffe in ihrer Hand seltsam elektrisierte und wie eine unnatürliche Quelle Adrenalins wirkte. Auf der anderen Seite des Ziegelsteinwegs führte eine Eisentreppe zur Princewater Street, auf deren oberster Stufe Shallow ein Mädchen gerade noch verschwommen erkennen konnte. Entschlossen verfestigte sie den Griff um ihre Waffe und sprintete mit großen Schritten die Treppe hinauf, wobei ihre Stiefel einen metallischen Hall erzeugten. Als sie den obereren Treppenabsatz erreicht hatte, sah sie sich suchend nach dem Mädchen um...und erstarrte. Sie stand am Fuß der breiten Straße, an der Abberlines kleine Wohnung lag. Das Mädchen aber war nirgends zu sehen – sie schien in der wogenden Menschenmenge vor ihr untergetaucht zu sein. Auf den Straßen wimmelte es auch vor Menschen und etwas, das die Frau nicht wirklich einordnen konnte. Auf dem Pflaster lagen bereits zwei oder drei Tote, ein Leichnam nur wenige Schritte von ihr entfernt: ein Mann mit halb aufgerissenem Brustkorb. An seinen grauen Haaren erkannte Shallow, dass es sich um einen der älteren Bewohner der Stadt gehandelt haben musste. Aber natürlich!, dämmerte es ihr allmählich, als ihr von Panik erfüllter Verstand langsam in Gang kam. Alle Erwachsenen sind auf dem großen Platz. Hier unten in der Stadt sind nur die Kinder, die Alten und Kranken...Clarissa!
Die rötlich gefärbte Luft war von Brandgeruch erfüllt. Schreie und Rufe zerrissen die Nacht. Überall standen Haustüren sperrangelweit offen. Leute stürmten in Panik nach draußen, blieben aber abrupt stehen, als sie die vor fremden Wesen wimmelnden Straßen sahen. Es war unglaublich, einfach unvorstellbar. Wie hatte das passieren können? Wie hatte dieses feindliche Heer die Verteidigungslagen einfach so überwinden können? Noch nie hatte eine solch große Streitmacht Fuß auf die Insel gesetzt. Doch jetzt brandeten Dutzende, Hunderte, vielleicht noch mehr wie eine giftige Flutwelle durch die Gassen. Shallow hatte das Gefühl, hinter einer Glaswand zu stehen. Sie konnte zwar alles erkennen, war aber unfähig, sich zu rühren. Mit starren Entsetzen sah sie, wie ein Soldat einen fliehenden Jungen packte, ihn in die Luft hob und ihm die gezackte Waffe tief in die Schulter schlug. Der Junge kreischte vor Schmerzen, doch seine Schreie gingen im Lärm unter, der immer weiter anschwoll: das jubelnde Heulen der Soldaten, die Schreie der Menschen, das Geräusch eiliger Schritte und das Splittern von Glas. Am Ende der Straße rief jemand etwas, das Shallow kaum verstehen konnte.
~ * ~
Das rötliche Licht hatte nun an Leuchtkraft gewonnen und überzog den Nachthimmel mit einem scharlachroten Glühen, das den Hügel, auf dem sie standen, fast taghell erleuchtete. Aus dem Tal unter ihnen stiegen Rauchfahnen hoch wie die sich entfaltenden Federn eines schwarzen Pfaus. Und aus dem schwarzen Dunst ragten die hohen Türme New Duchess Courts auf, deren gläserne Verkleidungen den rauchverhangenen Himmel, Feuerpfeilen gleich, durchbohrten. Doch zwischen den dicken Qualmwolken entdeckte man das Scharlachrot zuckender Flammen, die wie eine Handvoll glitzernde Rubine auf einem schwarzen Tuch über die gesamte Stadt verbreitet waren. Die sechs Gestalten unterschiedlicher Größe standen, in schwere, dunkle Kapuzenmäntel gehüllt und betrachteten im stillen Voyeurismus wie die Stadt unter ihnen lichterloh brannte.
„Schade, dass Mamá nicht da sein kann, um das zu sehen“, jammerte die kleinste der Gestalten und ihre Kaugummiblase platzte noch in dem Moment, in dem sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Eine etwa gleichgroße, vermummte Person legte einen Arm um sie, während sie als Antwort nur ein Schlürfen erhielt, ehe der Verursacher, dessen langen Ohren durch die Kapuze hindurchbrachen, die Teetasse in seiner Manteltasche versinken ließ.
„Das war erst Phase 1, du Dummerchen“, räusperte sich der Dritte, ehe er einen Hustenanfall bekam, der ihn schaudernd zu Boden warf.
„Dumpty-san hat recht“, intervenierte ein Mann, dessen Haar im Schein des Lichts wie flüssiges Gold glänzte. „Mamá will die Verräter leiden lassen! Ich werde ihnen den letzten Tod bringen. Wir sehen uns auf dem Schiff wieder“, verkündete er in kaltherziger Euphorie, und während er sprach, verwandelten sich seine feinen Gesichtszüge bereits in den scharfen Schnabel eines Raubtiers. Niemand widersprach ihm oder wünschte ihm Glück. Sie verließen die Insel, während die geflügelte Bestie der ehemaligen Kolonie der Herzkönigin den Tod überbrachte, wie ein Geschenk zum Jahreswechsel.
1480 Anno Maris – New Duchess Court
Mit leuchtenden Augen blinzelte das Mädchen und versuchte, den mysteriösen Nebel, der vor ihren Augen gelegen hatte, mit einem Mal kräftig fortzuwischen. Ihr Vater hatte sie auf seine Schultern genommen und drückte seiner Frau einen sanften Kuss auf die Wange, welche ebenfalls ein Mädchen an der Hand hielt, die sich ein wenig unsicher an ihr Bein klammerte und sie mit einem unsicheren, teilweise sogar abschätzigen Blick bedachte.
„Das ist unsere neue Heimat! Prägt sie euch gut ein, Shallow und Clarissa! Hier werden wir glücklich werden!“, verkündete der Mann mit euphorisch-gebrochener Stimme und Shallow konnte es nicht fassen, dass der Mann, den sie als stoischen, unnahbaren Fels eines Mannes abgespeichert hatte, eine Träne wegblinzelte, die in einsamer Einzigartigkeit auf den weißen Stoff ihrer Strümpfe tropfte. Doch ihre Verwunderung wehrte nicht lange, denn vom Ufer des Landes, welches die Krone ihres Geburtslandes kolonialisiert und erschlossen hatte, drang auf einmal aufregendes Geschrei und die bunte Menschenmasse warfen feiernd die Arme und ihre Hüte in die Luft. Sie hatte selten so ausgelassene Personen gesehen. Nachdem das Schiff angelegt hatte, verließ sie zusammen an der Hand ihres Vaters, gefolgt von ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Clarissa, das Deck, wobei die Menschen Blumen in exotischen Formen und Farben vor ihre Füße legten. Sie kam sich vor, wie eine Prinzessin der vielen Bücher, die ihre Mutter den beiden Schwestern immer vorgelesen hatte. Während Clarissa die Geschichten liebte, in denen die arme Maid vom Prinzen gerettet wurde, interessierte sich das blauhaarige Mädchen eher für die wenigen, in denen Prinzessinnen selbst zu Helden wurden.
„Es freut mich sehr, sie in der zwölften Kronkolonie ‚New Duchess Court’ begrüßen zu dürfen, Gouverneur McOre“, salutierte ein hagerer Mann mit schütterem, grauem Haar, woraufhin ihr Vater wieder zu der Person wurde, welche sie von daheim kannte und den sie gleichermaßen fürchtete, wie von ganzem Herzen liebte.
„Ich entschuldige mich vielmehr für die Unannehmlichkeiten und ihren Verlust, dass der letzte Gouverneur so tragisch verstorben ist, Pater Abberline! Sie haben die Geschäfte in der Kolonie zur vollsten Zufriedenheit unserer Königin vollendet!“
Ihr Vater klang so respekteinflößend und auch der Mann, dessen Name Abberline lautete, wirkte neben dem Koloss in seiner weiß-roten Gardeuniform wie ein Zwerg mit einem albernen Zylinder. Ihr Vater schüttelte ihm die Hand und wandte sich nun zu dem Schiff um, welches im Hafen der Stadt lag. Eine riesige Menschentraube hatte sich in einem perfekten Halbmond um die Neuankömmlinge geschart. Eine frische Brise kitzelte Shallow an der Nase, welche die Segel des großen Viermasters aufzublähen schien, als wollte es wieder über die unsicheren Gewässer der Neuen Welt schippern. Das scharlachrote Herz, dessen linke Seite drei kniende Löwen und auf der rechten Seite eine umrankte Sense zierten, breitete sich dabei zu seiner vollen Dominanz aus. Doch etwas anderes erregte die kindliche Aufmerksamkeit des achtjährigen Mädchens. Es war ein dürrer Junge, dessen Haar wie ein Vogelnest zu allen Seiten abstand. Seine Gesichtszüge waren bleich und Shallow benötigte einen Moment, ehe sie merkte, dass der Junge sie mit einem funkelnd-abweisenden Blick musterte. Sofort stieg ihr die Röte ins Gesicht, denn man hatte ihr beigebracht, dass man fremde Menschen nicht so anstarren durfte, aber irgendetwas an diesem Jungen erregte ihre volle Aufmerksamkeit, sodass sie nicht einmal mehr den Worten ihres Vaters lauschte. So war es Clarissa, deren Haare einen seidigen Rosaton hatten und sie somit vollkommen nach ihrer Mutter schlag, die sie am Ärmel ihres Kleides zupfte. Ihr goldener Blick war tadelnd und Shallow hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
„Vater hat seine Rede beendet! Du solltest klatschen!“, zischte sie, streckte das Kinn nach oben und applaudierte heftig. Alle Anwesenden taten es ihr gleich und sogar die Besetzung der Mayflower Nummer Drei, mit der sie vom königlichen Heimathafen aufgebrochen waren, tat es ihnen gleich. Während die McOres ihren Weg durch die Menge nahmen, um den königlichen Gouverneurspalast zu beziehen, suchten Shallows grüne Augen, das einzige, was sie von ihrer Mutter äußerlich geerbt hatte, nach dem fremden Jungen. Sie hatte die Suche schon beinahe aufgegeben, als sie ihn wiedersah. Neckisch saß er auf einem der Heuwägen und biss genüsslich in einen Apfel, sodass ihm der saure Fruchtsaft über die Mundwinkel und das Kinn auf sein graues, zerschlissenes Hemd tropfte. Dem Mädchen entgleisten dabei völlig die Gesichtszüge, denn ihre Eltern hätten ihr für dieses untadelige Benehmen vermutlich eine Ohrfeige verpasst. Als hätte ein Mann ihre Gedanken erahnt, zog jemand den Jungen mit einem kräftigen Zug vom Wagen und schlug ihm mit Vehemenz den Apfel aus der Hand und die Rückhand ins Gesicht. Shallow schlug instinktiv die Hand vor den Mund, als sie die Stimme des Mannes vernahm, den sie als Abberline wiedererkannte.
„Was soll die Gouverneusfamilie nur von dir denken, Bengel!“, zischte er mit unterdrückter Wut und Shallow warf dem Jungen einen Blick hinterher, der sie mit geröteten Wangen ausdruckslos anstarrte, während die Tirade seines Vaters über ihn hinwegrollte. War sich das Mädchen im ersten Moment nicht sicher gewesen, ob sie in dem Jungen Feindseligkeit entdeckt hatte, wandelte sich diese Vermutung nun in bittere Gewissheit, denn auf einmal loderte ein Funken in seinen dunklen Augen auf, den die Blauhaarige zweifellos als Hass interpretierte.
~ 1489 Anno Maris ~
„Bist du immer noch nicht fertig, Shally?“, nörgelte Clarissa, welche sich nun schon zum hundertsten Mal im Spiegel betrachtet und ihr Aussehen gemustert hatte. Shallow hingegen saß am Schreibtisch und hatte sich mit einem Bleistift die lange, blaue Mähne zu einem wirren Knoten nach oben gesteckt, während sie auf einem weiteren herumkaute. Sie hob den Zeigefinger, um stumm zu signalisieren, dass sie nur noch eine weitere Minute benötigte, obwohl sie wusste, dass diese Geste ihre Schwester zur puren Weißglut trieb. Die Reaktion ließ auch nicht lange auf sich warten, denn zornesentbrannt stapfte diese zu ihr und riss ihr den schweren Wälzer aus der Hand, über dem Shallow schon den ganzen Morgen gebrütet hatte.
„Ingenieurskunst...“, las Clarissa in einem Tonfall, der so angewidert klang, als hätte sie dort ein Buch über Leichenschändung liegen. Obwohl dies für ihre oberflächliche Schwester wohl das gleiche gewesen wäre, überlegte Shallow und musste ein schmunzeln unterdrücken.
„Okay, okay“, warf sie kapitulierend die Hände in die Luft, um das Thema von ihrer heimlichen Leidenschaft abzulenken. Sie wusste, dass weder ihre Schwester, noch ihre Eltern die Idee begrüßten, dass sie sich etwas anderem als Sprachen und den sogenannten schönen Künsten widmete, aber sie konnte dem Drang einfach nicht widerstehen. Sie hatte sich in der Schule hauptsächlich für Kurse im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich angemeldet und war dort neben vielen Jungs das einzige Mädchen, aber das kümmerte sie wenig. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, welche das Mädchen per exellence darstellte, scherte sich Shallow wenig um die Meinung anderer. Sie konnte die ganze Aufregung um das Thema Kleidung und Beziehungen nicht verstehen, von dem ihre Schwester regelmäßig besessen zu sein schien.
„Du weißt, dass Vater wütend wird, wenn ich ihm davon erzähle, dass du das schon wieder gelesen hast“, säuselte Clarrisa mit giftig-süßem Tonfall, den sie immer anschlug, wenn den Schwestern bewusst wurde, wie unterschiedlich sie doch waren.
„Wenn ich ihm erzählen soll, dass du dich mit Charles triffst, obwohl er es dir verboten hat, Clary“, konterte Shallow unbekümmert und fuhr sich mit einer Bürste durch das struppige, blaue Haar. Die Gesichtszüge ihrer Schwester entgleisten und einen Moment hatte Shallow die belustigende Vorstellung, dass ihr ganzes zweites Gesicht – bestehend aus Puder und Makeup – ihr wie eine Maske einfach nach unten rutschen und klatschend auf dem Boden aufschlagen würde. Doch Clarissa hatte sich schon zu ihr geschoben und tätschelte ihr mit nervösen Fingern und zitternder Stimme über die Schultern.
„Aber Shally...das...du...kannst das nicht machen! Du weißt, dass er fuchsteufelswild wird und dann darf ich nicht zu dem Ball und...und außerdem ist das mit uns ja auch was Ernstes, aber Charles hat Angst vor Vater und...“, haspelte sie, bis ihre Schwester die Demütigung ihrer Schwester zu Genüge ausgekostet hatte und sich mit hochgezogenen Brauen zu ihr umdrehte.
„Das war ein Witz, Clary!“
Clarissa starrte sie einen kurzen Augenblick mit absoluter Verwunderung an, ehe ihr nervöses Stottern in ein künstliches, viel zu hohes, schallendes Gelächter umschlug.
„Ein Witz...ach, Shally. Du bist manchmal einfach zum Schießen....ich..ich warte unten auf dich, okay?“
Shallow nickte, während sich ihre Schwester entfernte und betrachtete sich einen Moment im Spiegel, wie es Clarissa immer zu tun pflegte. Ihre Haare glänzten zwar nicht wie Seide und ihr Kinn wirkte für ein Mädchen ziemlich kantig, aber dennoch hatte sie nicht das Gefühl, dass sie schlecht aussah. Mit diesem positiven Gedanken griff sie zu ihrem Wintermantel und verließ ihr Zimmer.
~ * ~
Die Straßen leuchteten in so vielen bunten Farben, dass Shallow gar nicht wusste, wohin sie blicken sollte, aber da hatte Clarissa sie bereits unwirsch am Handgelenk gepackt und zerrte sie mit sich, vorbei an verschiedenen Buden, die einmal einen Duft von betörenden gebrannten Mandeln und andererseits die würzige Note eines gegrillten Spanferkels verbreiteten. Sie hielten so abrupt, dass Shallow auf dem schmierigen Untergrund aus Schneematsch fast ausgerutscht wäre. Sie wollte schon etwas genervtes erwidern, aber da hatte sich Clarissa bereits in das nervtötende Geschnatter einer Horde von Mädchen eingeklinkt, die bei der Blauhaarigen einfach nur Kopfschmerzen verursachten. Eine Weile versuchte sie sogar, ihrer Schwester einen Gefallen zu tun und sich so gut es ging, in die Themen, die sich in Sachen Oberflächlichkeit und Banalität jedes Mal aufs neue überboten, einzubringen. Sie setzte ein hübsches Lächeln auf, aber als dann Charles, gefolgt von einer Gruppe Jungs, auftauchte, schlug ihre Stimmung schlagartig ins Negative um. Sie konnte alles an diesem Jungen nicht ausstehen, obwohl er objektiv betrachtet mehr als ansehnlich war. Er besaß bereits jetzt mit achtzehn Jahren ein unglaublich markantes Kinn und helle, fast strahlende Augen, bei denen Shallow sich aber permanent vorkam, als würde ihre Klarheit ihr einen verurteilenden Spiegel vorhalten. Zudem hatte er etwas Bedrohliches, Animalisches an sich, was im perfekten Kontrast zu seinem weißblonden Haar stand, welches vor allem jetzt im Schein all der Weihnachtslichter dem Schopf eines Engels auf bemerkenswerte Weise glich.
„Ich schlendere mal ein wenig über den Markt“, murmelte sie Clarissa zu , welche aber schon ihre gesamte Aufmerksamkeit Charles Winchester geschenkt hatte, woraufhin sich Shallow mit einem Achselzucken entfernte.
~ * ~
Summend humpelte Oswald durch den Raum, der mit seinen vielen medizinischen Apparaturen und Geräten viel mehr wie ein Untersuchungsraum einer Klinik, als ein Kinderzimmer wirkte, aber der Jugendliche war schon immer anders gewesen, als seine Altersgenossen. Während andere als Kinder am liebsten auf den Spielplätzen rumgetollt, auf Bäume geklettert oder zu den Seen hinaus gefahren waren, hatte er am liebsten seinen Vater begleitet, wenn er die Patienten in den Laboratorien besucht hatte. Mit kindlicher Entzückung hatte er die Experimente seines Vaters beobachtet, in denen der Professor mit Hilfe aller Elemente versucht hatte, die Psychosen seiner Patienten zu heilen. Während andere Jungs sich allmählich mit Mädchen verabredeten und generell von ihrer erwachenden Sexualität übermannt wurden, fing Oswald an, sich eigenen kleineren Forschungen zu widmen, da die reine Beobachtung der Experimente ihm nicht mehr genügte. Hatte er zu Beginn noch versucht, die Forschungen seines Vaters an Tieren nachzuvollziehen – mit einem seligen Lächeln dachte er an den alten Kater seiner Großmutter, den er so lange mit Elektroschocks malträtiert hatte, bis er nur noch ein passiver Haufen Fell und Fleisch war, dem permanent ein unkontrollierbarer Speichelfaden aus dem Maul tropfte. Sein darauf folgendes psychisches Ende hatte das physische Ende seiner geliebten Großmutter nach sich gezogen. Mit elektrisierender Faszination – die in seiner Vorstellung dem männlichen Lusttrieb seiner Altersgenossen zu entsprechen schien – dachte er an den Tag zurück, als er realisiert hatte, wie stark unsere Physis, unsere menschliche Natur von dem fragilen Kartenhaus unserer mentalen Psyche getragen wurde. Es war ein Leichtes, dieses Kartenhaus zum Einsturz zu bringen und damit das Leben eines Menschen zu beenden.
„Wir fangen dann gleich an“, murmelte er, während er zum Waschbecken watschelte, um sich steril zu machen. Dabei viel sein wässriger Blick auf die Straße und nachdem er das blendende Leuchten der Weihnachtslichter ignoriert hatte, erkannte er ein blauhaariges Mädchen, welches eilig durch die Gassen schritt. Einen kurzen Augenblick regte sich in ihm etwas. Eine Faszination, die seiner Bewunderung für das menschliche Gehirn gleich kam, als er das mitleidige Wimmern der Person in seinem Zimmer vernahm, die das aufkeimende Gefühl sofort erlöschen ließ. Mit abwesendem Gesichtsausdruck drehte er das Wasser ab, streifte sich die Handschuhe über und griff zu den sterilen Instrumenten, ehe er sich mit flinker Handbewegung das Skalpell nahm.
„Weißt du, dass heute veröffentlicht wurde, dass das nächste Symposium auf dieser Insel stattfindet? Maximova, Vegapunk, Crown, und so viele weitere. Ich werde alle meine Idole endlich persönlich kennenlernen. Vielleicht....vielleicht nimmt mich ja einer von ihnen mit und erlöst mich aus dieser Einöde hier. Ich möchte mehr lernen, mehr erreichen. Vor allem nach dem heutigen Tag! Heute werde ich endlich mein erstes menschliches Gehirn in den Händen halten“, flötete er mit nervös-zittriger Stimme und strich der Frau die Strähnen dunklen Haars aus dem Gesicht, ehe er mit absolut kalter, distanzierter Stimme fortfuhr. Als hätte man einen Schalter umgelegt, wurden seine Bewegungen mechanischer, aber dafür auch fließender und sein Blick war absolut leer.
„Getrud Pinel, geborene Cobblepot. Zweiundfünfzig Jahre. Einundsechzig Kilo“, dokumentierte er, als wären noch weitere Personen im Raum und setzte das Skalpell am Stirnlappen der Frau an. Er kontrollierte noch einmal den Infusionsbeutel, in dem er starke Beruhigungsmittel gefüllt hatte, um die Patientin von unkontrollierten Bewegungen abzuhalten. Sie waren dennoch genauso so dosiert, dass sie nicht ihr Bewusstsein verlor. Ehe er den Schnitt ansetzte, lächelte er noch einmal kurz.
„Frohe Weihnachten, Mutter!“
~ * ~
Shallow fluchte leise, als das Eis unter ihr nachgab und ihre gefütterten Winterstiefel platschend in der gefrorenen Pfütze landete. Fluchend zog sie ihr Bein heraus und setzte ihre Bewegung fort, als sie ein höhnisches Lachen wie ein verächtliches Echo durch die Gassen jagte. Funkelnd warf sie ihren Kopf nach oben und erkannte einen Jungen, der mit baumelnden Beinen auf der Feuerleiter saß.
„Was ist dein Problem, Abberline“, fauchte sie, wobei sie froh war, dass die glänzenden Lichter, die ihren schimmernden Schein in allen erdenklichen Farben auf die Gasse warfen und den Schnee in fluoreszierende Schönheit tauchten, ihre geröteten Wangen nicht verrieten.
„Ich ergötze mich lediglich daran, dass auch eine Prinzessin einmal fällt“, erwiderte der schmächtige Junge und beugte sich bedenklich weit über die gusseiserne Halterung, um einen besseren Blick auf Shallow zu erhaschen.
„Kannst du mal damit aufhören?“, erwiderte das Mädchen, ging ein paar Schritte zurück und legte den Kopf in den Nacken, um ebenfalls ihre Sicht auf ihren Gesprächspartner zu erhöhen.
„Womit?“, gab der Junge offensichtlich ehrlich überrascht von sich, während ihm die dicke Wollmütze, die ihm mehrere Nummern zu groß war, tief in die Stirn gerutscht war. Feine Schneeflocken hatten sich darin verfangen und erst dann merkte Shallow, dass es stark zu schneien begonnen hatte.
„Naja, dass du mich immer Prinzessin oder königliche Hoheit beschimpfst. Ich bin keine Adelige.“
„Aber du führst dich so auf“, entgegnete Frederick, wobei seine Stimme wieder diese abschätzige Überheblichkeit angenommen hatte. „Du und deine ganze Familie.“
„Ach, leck mich doch, Abberline!“, keifte Shallow, der bewusst geworden war, dass sie mit dem Jungen nicht zu diskutieren brauchte. Seit sie auf der Insel angekommen war, brachte er ihr diese unerklärliche Abneigung entgegen, obwohl sie immer, wenn sie ihm begegnet war, stets freundlich auftrat und ihm ein Lächeln schenkte. Sie wollte sich bereits zum Gehen wenden, als der Junge mit einem Mal vor ihr stand. Mit offenem Mund stand sie vor ihm und ihre Wut schien augenblicklich verpufft, als sie das Gesicht Fredericks genauer erkannte. Es war blau und grün geschwollen, was durch den Lichterschein auf groteske Weise untermalt wurde. Das Mädchen musste dem starken Drang widerstehen, ihre Hand auszustrecken und ihm über die aufgeplatzte und geschwollene Haut zu streicheln. Ehe sie es sich versehen konnte, hatte er sich vorgebeugt, sie bestimmt an der Hüfte gefasst und sie zu sich gezogen. Sie konnte nur noch ein überraschtes Piepsen von sich geben, ehe er sie küsste. Zunächst war sie überrascht von dem würzig-salzigen Geschmack seiner Lippen, die ein wenig rau waren, aber dann gab sie nach und ließ es geschehen. Doch so schnell diese unerwartete Regung auch über den Jungen hereingebrochen war, so schnell ließ er von ihr ab und stieß sie von sich weg.
„Was sollte das?“, wirbelte Shallow herum, wobei sich auf ihrem Gesicht ein seliger Ausdruck ausgebreitet hatte, aber Abberline hob nur die Hand und bedachte sie mit keinem weiteren Wort.
~ * ~
Abberline konnte gar nicht mehr aufhören zu Lächeln, obwohl ihm dabei die gespannte Haut schmerzte. Er war in Gedanken noch so vertieft, dass er die fliegende Faust, die ihm donnernd ins Gesicht traf, gar nicht bemerkte. Keuchend ging er zu Boden und hörte das schallende Gelächter einer Gruppe von Jungs, die er bereits erkannt hatte, ehe er ihre Fratzen sah. Charles Winchester und seine Horde an hirnlosen Schlägern hatten sich vor ihm aufgebaut und musterten ihn mit perverser Freude.
„Womit hab ich diese Begrüßung verdient?“, lächelte Frederick im spöttischen Tonfall und offenbarte dabei seine blutverschmierten Zähne, woraufhin sich die Miene Charles noch mehr verfinsterte. Er packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich hoch, presste ihn gegen die Mauer, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Frederick roch die Mischung aus testosterongeladenem Schweiß und Alkohol, vermutlich Glühwein oder etwas stärkeres.
„Was wagst du eigentlich, deine dreckigen Hände an Shallow zu legen?“, brüllte er ihn an, wobei einzelne Tropfen Speichel Abberline ins Gesicht flogen wie kleine Artilleriegeschosse. Der schmächtige Junge überlegte sich einen Moment, ob er sie sich demonstrativ wegwischen sollte, aber da bohrte sich die Faust bereits in seinen Magen, sodass er sich schmerzerfüllt zusammenkrümmte.
„Glaubst du wirklich, dass der Sohn eines Säufers und Pfaffen gut genug für die Tochter des Gouverneurs ist? Dein Vater hat dich ja wieder ordentlich zugerichtet, Abby!“, verhöhnte ihn Charles, woraufhin blanker Hass in die dunklen Augen des schmächtigen Jungen stieg. Er legte seine ganze Kraft in die folgenden Worte und versuchte, sie nicht von den Schmerzen korrumpieren zu lassen.
„Neidisch, oder? Immerhin hast du nur die Dumpfbacke der Schwestern bekommen...Shallow scheint nicht auf dich zu stehen, Charly!“
Einen Moment war sein Widersacher sprachlos, aber die Verunsicherung währte nicht lange, denn ein rascher Kinnhacken ließ Abberline bewusstlos zusammensacken. Charles hielt ihn noch einen Moment am Kragen, ehe er ihn wie eine heiße Kartoffel oder einen Sack Abfall zu Boden sinken ließ. Die anderen Jungs klopften ihm grunzend anerkennend auf die Schulter, ehe sich die Gruppe verabschiedete, während sich die Schneeflocken wie eine dünne Decke auf Abberlines bewusstlosen Körper legten.
~ * ~
Oswald schleifte den schweren Müllbeutel über den Boden, wobei er erst auf der Hälfte der Strecke bemerkte, dass er wohl ein kleines Loch zu haben schien, denn er zog eine blutige Schleimspur durch den weißen Schnee. Achselzuckend hievte er den schweren Körper in den Müllcontainer, als er etwas entdeckte. Im ersten Moment hatte er es für Abfall erhalten, aber dann erkannte er einen Schuh und das dazugehörige Bein. Raschen Schrittes eilte er um die Ecke und erkannte den regungslosen Körper eines Jungen, der sich kaum noch zu rühren schien und schon beinahe ganz von Schnee bedeckt war. Bestürzt ging er in die Hocke, um den Puls des Jungen zu fühlen. Schwach und unregelmäßig vernahm er das Rauschen von Blut unter seinen blassen Fingerkuppen, obwohl es nur eine Frage der Zeit war, bis die blauen Lippen des Jungen ihren letzten Atemhauch ausgestoßen hätten. Oswald überlegte nicht lange, warf sich den Fremden wie einen Sack über die Schulter und trug ihn ins Haus.
~ 1517/1518 Anno Maris ~
„Shal! Shallow!“
Fredrick hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt und schüttelte sie. Langsam hob sie den Kopf: das blasse Gesicht Abberlines schwebte vor einem dunklen Hintergrund. Hinter seiner rechten Schulter ragte ein geschwungenes Stück Holz hervor: Frederick hatte seinen Bogen umgeschnallt, welchen er zusätzlich zu seiner Pistole bei sich trug. Shallow konnte sich nicht daran erinnern, dass er auf sie zugekommen war; sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass sie ihn auf der Straße gesehen hatte. Es kam ihr vor, als wäre er plötzlich wie ein Geist aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht.
„Frederick...“ Ihre Stimme zitterte und gehorchte ihr nur langsam. „Frederick, hör auf. Mir geht’s gut!“ Sie befreite sich aus seinem Griff.
„Du hast aber nicht so ausgehen“.
Abberline schaute sich rasch um und fluchte leise: „Wir müssen unbedingt von der Straße runter.“
Shallow blinzelte. In ihrer unmittelbaren Umgebung waren diese seltsamen Kartenwesen nicht zu sehen. Auf der anderen Straßenseite kauerte jemand auf den Stufen eines Hauses und kreischte und heulte und stieß schrille Schreie aus. Der Leichnam des alten Mannes lag noch immer auf dem Kopfsteinpflaster und über allem waberte der Geruch von verbranntem Holz und Fleisch.
„Clary...Pentheus...wir...müssen....“ Shallow hielt inne und holte tief Luft. Sie war eine McOre. Sie würde nicht hysterisch werden, unter keinen Umständen. „Wir müssen sie finden“, brachte sie mit aller Anstrengung hervor, ehe sie den Polizeiinspektor bestürzt ansah. „Die Stadt wird überfallen. Wie ist das möglich?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte er knapp, wobei er den Kopf schüttelte. „Die Schutzwälle am Hafen müssen zusammengebrochen sein. Als ich aus dem Haus kam, liefen vier bis fünf dieser seltsamen Kartenwesen herum. Eines, das in den Büschen lauerte, habe ich erwischt. Die andren sind abgehauen, aber sie können jeden Moment zurückkommen. Los, wir müssen zurück ins Haus.“
Die Frau auf den Stufen schluchzte noch immer herzzerreißend. Ihr Wehklagen folgte ihnen, während sie zu Abberlines Wohnung rannten. Auf dem Weg dorthin begegneten ihnen keine weiteren Karten, doch aus anderen dunklen Gassen drangen der Lärm von Explosionen, Schreie und hallende, hastende Schritte. Als die beiden Erwachsenen die Stufen zur Haustür hinaufliefen, warf Shallow einen kurzen Blick über die Schulter und konnte gerade noch erkennen, wie eine lange Lanze, deren Spitze ein Herz bildete, aus der Dunkelheit zwischen zwei Häusern hervorpeitschte und die schluchzende Frau von den Stufen ihres Hauses riss. Ihr Schluchzen verwandelte sich in schrilles Schreien. Sofort versuchte Shallow umzukehren, doch Abberline hatte sie bereits an den Schultern gepackt, drängte sie rasch ins Haus, warf krachend die Haustür hinter sich ins Schloss und verriegelte sie. Das Haus lag vollkommen dunkel vor ihnen.
„Ich habe alle Lichter gelöscht. Ich wollte nicht noch mehr von ihnen anlocken“, erklärte er und schob die Blauhaarige vor sich her bis ins Wohnzimmer. „Ich werde mir noch schnell meine Uniform anziehen und dann noch einmal raus gehen! Und versuche gar nicht erst vorzuschlagen, dass du mitkommst, Shal!“
„Aber meine Schwester und Pentheus...!“, protestierte sie lautstark.
„Nach denen werde ich selbstverständlich auch suchen, aber ich kann nicht da raus und mich um sie kümmern, wenn ich weiß, dass du auch da draußen bist. Ich muss wenigstens einen Menschen, den ich liebe, in Sicherheit wissen!“
Tränen waren Shallow in die grünen Augen gestiegen, als Abberline auf sie zukam und seine Hände auf ihre Schultern legte. Er drückte ihr einen intensiven Kuss auf die Lippen, ehe er sie allein im Wohnzimmer zurückließ. Er wollte sich gerade von ihr abwenden, als sie seine Hand ergriff und sie fest drückte.
„Ich hoffe, dass es deinem Sohn gut geht!“
Doch um ihr ein Lächeln zu schenken, schien keine Zeit mehr zu bleiben, denn im nächsten Augenblick war Abberline bereits durch das zerstörte Fenster geklettert.
~ 1517/1518 Anno Maris –
Kol streckte sich, wobei ein paar Knochen gefährlich laut und angenehm knackten. Dennoch fand er Befriedigung in dem kurzen Schmerz, der dabei seinen Körper durchzuckte. Er legte den Pinsel und die Pinzette beiseite, mit denen er die antike Waffe gesäubert hatte, die er bei einer Ausgrabung gefunden hatte. Er konnte sie noch nicht wirklich einschätzen und weder etwas zu Alter, Herkunft oder sogar Funktion sagen. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Dennoch lächelte er, als er auf die Uhr blickte. Es war bald Mitternacht und er hatte gerade zehn Stunden daran gesessen, ohne etwas zu sich zu nehmen oder mal aufs Klo zu gehen. Schon lange hatte kein Artefakt ihn mehr so lange in Anspruch genommen und die ganze Palette an Fertigkeiten erfordert, die er sich angeeignet hatte. In dem kleinen Büro, welches er sein eigen nannte, flackerte das elektrische Licht, was Kol als endgültiges Zeichen verstand, seine Arbeit für heute niederzulegen. Er verstaute seine ganzen Utensilien und bedeckte die Waffe mit einem sterilen Tuch, um es vor Außeneinwirkungen zu schützen. Er wollte gerade das Licht ausschalten, als sein Blick auf das kleine gerahmte Foto auf seinem Schreibtisch fiel. Er wusste nicht, warum es ihm heute besonders auffiel, aber dennoch griff er mit schwerem Herzen danach und betrachtete es innig. Er wusste nicht wirklich, wann oder wo das Bild aufgenommen worden war, aber sein Vater hatte ihm gesagt, dass es eine der letzten Aufnahmen war, bevor seine Mutter gestorben ist, an die er überhaupt keine Erinnerungen mehr hatte. Es waberte in seinem Kopf nicht einmal der Hauch einer Ahnung oder die verschwommenen Umrisse eines Bildes. Kein Geruch. Kein vertrauter Laut ihrer Stimme. Alles, was er über seine Mutter wusste, kannte er aus Erzählungen seines Vaters.
Wo habt ihr euch kennen gelernt? Stammt sie auch von New Duchess Court? Hat sie noch Familie? Woran ist sie gestorben? Bin ich Schuld?
All diese Fragen waren in seinem Kopf verankert und jahrelang hatte er seinen Vater mit ihnen genervt und immer nur dieselben schwachen, sowie halbherzigen Antworten erhalten. Es machte manchmal den Anschein, als ob sein Vater ebenso wenig Erinnerungen an sie hatte, wie er selbst. Mittlerweile erklärte es sich der junge Kurator damit, dass der Tod seiner Mutter seinen Vater für immer verändert hatte. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er sich vorstellte, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn seine Mutter nicht so früh vom Tod dahingerafft worden wäre. Wenn sein Vater nicht immer so verhärmt ihm gegenüber reagieren würde. Doch Kol versuchte sich nie lange dieser Utopie hinzugeben, denn sie rissen Narben in seinem Inneren auf und erfüllten ihn mit einer tödlichen Mischung aus Verbitterung und Traurigkeit. Er wusste, dass er sich nicht beschweren konnte. Er führte ein tolles Leben. Ging seiner Leidenschaft nach und war sich bewusst, dass das Leben eben nicht in allen Bereichen perfekt laufen konnte.
Mit einer Mischung aus Trotz und Zufriedenheit stellte der Braunhaarige das Bild zurück, griff nach seinem Mantel und fuhr sich durchs strähnige Haar, welches ihm ein wenig kraus in die Stirn hing. Er passierte gerade die oberen Gänge des Museums, als er einen lauten Knall vernahm, der ihn instinktiv in Deckung gehen ließ. Panisch eilte er zu den großen Glasfenstern, die auf den Hauptplatz führten, wo in wenigen Minuten das Feuerwerk eröffnet werden sollte, um den Jahreswechsel zu feiern. Seine lindgrünen Augen weiteten sich, als er das grausame Schauspiel erblickte. Die gesamte Stadt lag in Flammen und die Menschen auf dem Platz wankten, einem unruhigen Meer gleich, hin und her. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Kol die Ursache erkannte und selbst als er sie erkannte, benötigte sein Geist noch einen Moment länger, um zu begreifen, was er dort sah. Hunderte von viereckigen Wesen, deren Gesichter nur hohle Fratzen und die mit verschiedensten Waffen ausgestattet waren, vielen einer Heuschreckenplage gleich über die Stadt her. Brandschatzten, plünderten und töteten dabei, was ihnen in den Weg kam. Einen Augenblick später hatten seine scharfen Augen das Wappen erkannt, welches ihre Brust wie einen Harnisch zierte. Die Herzkönigin hatte ihrer Unabhängigkeitserklärung damit endgültig den Krieg erklärt. Er zögerte keinen weiteren Moment, eilte zu einer Vitrine, in der mehrere Waffen hinter den gläsernen Wänden gelagert wurden und holte mit seinem Ellbogen zu einem kräftigen Schlag aus.
~ * ~
„Bringt die Kinder und Frauen in den Gouverneurspalast!!“, herrschte Frederick Abberline die Bevölkerung an, die wie paralysiert dastand, während alles, was sie sich in den letzten Jahrzehnten aufgebaut hatten, vor ihnen zu Grunde ging.
„Was sind das für Wesen?“, bellte Harvey Benner und Abberline war noch nie so froh wie jetzt, dass der bullige Riese sein Partner war.
„Ich habe keine Ahnung, aber als ich ein paar erledigt habe, ist mir aufgefallen, dass sie einfach aus Papier sind! Ich tippe auf Teufelskräfte!“, brüllte er, ehe er zur Demonstration einen der Kartensoldaten in den Bereich schoss, welchen er als Kopf zu identifizieren glaubte. Der Soldat wurde augenblicklich von den Füßen gerissen und segelte in eine der brennenden Häuserfronten, wo er sofort zu schwarzer Asche zerrieselte. Zufrieden lächelte der Polizeiinspektor und warf seinem verdutzten Kollegen seine Waffe zu.
„Ich denke, dass ich umsteigen werde“, schmunzelte er ihm zu und griff zu seinem geschwungenen Bogen.
„Ein Bogen?“, schnaubte der Bulle verächtlich, aber in all den Jahren, in denen er und Abberline zusammen auf Streife gingen, hatten sich der Instinkt und die Pläne des Inspektors noch nie als falsch erwiesen, weswegen er nur mit den Schultern zuckte und half, die Stadt zu evakuieren. Abberline legte derweilen einen Bogen an die Sehne, den er zuvor mit einem Streifen seines ohnehin zerrissenen Hemdes umwickelt hatte und zielte auf zwei der Soldaten, die sich gerade über eine Frau samt Kind hermachen wollten. Der Pfeil schnellte von seiner Sehne, durchbohrte beide Wesen und steckte sie augenblicklich in Brand. Unter jaulendem Geschrei liefen sie noch kurz im Kreis, ehe sie zu feiner pechschwarzer Asche zerfielen.
Ich muss den Urheber der Teufelskräfte finden, um dieses Chaos in den Griff zu bekommen.
~ * ~
Kol duckte sich hinter einer Steinmauer und umklammerte das Rapier mit eisernem Griff. Er atmete tief ein, löste sich dann geschmeidig wie ein Schatten von der Mauer und zerteilte zwei der Wesen mit einem Streich, die sich gerade mit ihren erhobenen Lanzen über einen Jungen hermachen wollten. Er glitt zu Boden und überprüfte, ob es dem Jungen gut ging, dessen rosafarbener Schopf im Licht der Flammen ebenfalls zu brennen schien. Er blinzelte und schlug die Augen auf und Kol dachte einen Augenblick, dass der Junge ihn anfallen würde, aber dann warf er sich ihm schluchzend an den Hals.
„Vielen Dank. Ich dachte schon, dass ich sterben müsste“.
Kol lächelte und tätschelte ihm beruhigend die Stirn, den im selben Moment hatte er ihn auch erkannt.
„Du bist doch Pentheus Winchester, oder?“
Sofort löste sich der Junge von seinem Hals und etwas Distanziertes lag in seinem Blick. Eine Wut, die einerseits normal für einen fünfzehnjährigen Jungen zu sein schien und andererseits etwas im Inneren Kols berührte. Als würden seine Narben wieder anfangen zu schreien. Doch ehe er etwas sagen konnte, lächelte Pentheus ihn an und nickte.
„Gut. Dann solltest du mal lieber in den Gouverneuspalast gehen. Ich denke, dass deine Mutter und dein Vater dort bereits auf dich warten. Okay?“
„Aber was ist mit dir?“
„Ich versuche noch so viele Dinger von denen auszuschalten wie möglich!“, lächelte Kol, richtete sich auf und half dem Jugendlichen ebenfalls auf. „Beeil dich, okay?“
Pentheus nickte, machte sich auf dem Weg und hielt einen Augenblick inne, um dem jungen Erwachsenen noch einmal nachzusehen, der im Labyrinth der Straßen so eben verschluckt worden war.
Kol eilte noch kurz weiter, ehe er etwas am Himmel erspähte. Einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, dass er einen Engel am rußbedeckten Firmament sehen würde. Ein himmlischer Erlöser, der in den letzten Atemzügen dieser Stadt kommen würde, um sie alle zu retten. Doch dann sah er die gewaltigen Pranken und den scharfen Schnabel. Doch am meisten schockierte er ihn, was er zwischen seinen Klauen trug.
~ * ~
„Ja, eure Hoheit! Gryphius ist soeben unterwegs und wird die Waffe im Zentrum der Stadt positionieren“, sprach die Gestalt in die Teleschnecke, deren Körper fast einem perfekten Oval glich. Er hatte die dürren, stelzenähnlichen Beine übereinander geschlagen und obwohl er ein Langbeinmensch war, sorgte sein kurzer Oberkörper dafür, dass er nicht viel größer als der andere Mann war, der genüsslich an seiner Teetasse schlürfte. „Meine Papiersoldaten sollten die Menschen solange abgelenkt haben, dass dem Plan nichts im Wege stehen dürfte!“
Das Mädchen mit den blonden Haaren wandte sich genervt ab, da das Telefonat kein Thema anschnitt, welches sie zu interessieren schien. Die Fünfjährige hüpfte fröhlich über das Deck zu dem Mann, der in gespannter Neugier die brennende Insel aus der Ferne beobachtete. Die Flammen spiegelten sich in perfekter Symmetrie in seiner Porzellantasse, wodurch das Mädchen einen Moment die Vorstellung hatte, dass er eine lebendige Flamme in den Händen halten würde.
„Du...Theophilus....wann können wir wieder heim...“, schmollte das Mädchen und zog mit großen, wässrigen Augen am schweren Mantel des Mannes, woraufhin er seine geweiteten neongrünen Augen zu ihr hinabsenkte.
„Schmoll nicht immer so rum, Dee“, nörgelte das andere Mädchen, welches mit einem Lappen beschäftigt war, die riesigen Klingen der Schere zu reinigen, die Theophilus sonst immer auf dem Rücken trug. Der Hutträger wandte ihr einen bösen Blick zu, ging in die Hocke und schenkte der vierjährigen Tweedledee ein aufrichtiges Lächeln, welches jene sofort erwiderte.
„...wir werden mit Sicherheit wohlauf zurückkehren“, schloss der Eiermann das Gespräch und legte die Teleschecke zur Seite, ehe er mit seinem Gehstock schnell nach vorne schnellte und Tweedledee mit brachialer Gewalt gegen den Hinterkopf donnerte.
„Hör auf zu weinen, du Göre!“, schellte er sie keifend an, während seine kleinen Knopfaugen den Hutmacher mit bösen Blicken musterten. „Wir haben die Zwillinge nicht aus dem Krankenhaus geholt, um sie zu verhätscheln, Theophilus!!“
„Es tut mir Leid, Dumpty-san!“, schmollte er und zog sich zurück, während Tweedledee stumm am Boden lag und sich den goldenen Haarschopf hielt, der nun von Blut verkrustet war.
„Und jetzt steh auf! Hilf Alice beim Kochen“, brummte er mit gemäßigtem Tonfall. Das Mädchen stand sofort auf, packte ihre Schwester am Handgelenk und zerrte sie eilig in die Küche. Humpty Dumpty drehte sich um und betrachtete nun auch das Spektakel, während er die Porzellantasse ergriff, welche Theophilus hatte stehen lassen.
„Gryphius. Du solltest dich lieber beeilen!“, murmelte er in die Dunkelheit, ehe sich erneut die Teleschnecke zu Wort meldete. Unter einem bellenden „Ja?“ nahm er ab, um die flehende Stimme eines Mannes zu hören, der sich dort meldete.
„Spr-e-eche ich da mit der königlichen Garde von Duchess Court?“
Der ältere Langbeinmann grinste, als er die Stimme erkannte.
„Ich grüße Sie, Mister Winchester! Es freut mich, dass sie der Bitte unserer Königin nachgekommen sind und die Truppen von den Stadtmauern abgezogen haben!“
„Ich...ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass das so endet“, jammerte er und zum persönlichen Missfallen des Zweiten Offiziers der Garde ließ der weinerliche Tonfall des Mannes seine Wut in ihm hochkochen.
„Ihre Gewissensbisse sind mir und auch der königlichen Hoheit leider egal. Sie werden ihre Entschädigung erhalten. Mit Ihrem Gewissen kommen Sie am besten auf Ihre Art zu Recht. Ob sie Erleichterung bei einer Flasche Scotch oder doch in den tiefen eines Flusses erhalten, ist mir vollkommen gleich“, zischte er und legte auf.
~ * ~
Frederick Abberline war sich nicht sicher, ob er den Mann richtig verstanden hatte. Alles, was er sah, war ein Mann, den er als Charles Winchester wiedererkannte und der mitten in einer Seitengasse schluchzend zusammengebrochen war. Er sollte auch keine weitere Gelegenheit bekommen, diesem Gedanken nachzugehen, denn mit einem gewaltigen Krachen stürzte der Garnisionsturm über ihm zusammen. Er sprintete los, griff Charles unter den Armen und zerrte ihn gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, ehe er von den Steinmassen erschlagen wurde.
~ * ~
Verdammt! Verdammt! Verdammt!
Kol hatte keine Ahnung, was er tun sollte oder wie er das geflügelte Biest aufhalten sollte. Die wahnwitzige Idee, irgendwo nach oben zu klettern und den Greifen in der Luft abzufangen, verwarf er sofort. Stattdessen versuchte er irgendwie, am Boden mit ihm Schritt zu halten und es auf irgendeine Weise, die er sich noch nicht gründlich überlegte hatte, von seinem Vorhaben abzubringen. Er stolperte auf den Platz, der zuvor noch von Menschen überfüllt gewesen war und erkannte zu seiner Überraschung, dass er fast ausgestorben war. Zwei einzelne Personen standen in seiner Mitte und schienen in heftige Diskussionen vertieft zu sein.
„Der Nordteil der Stadt ist evakuiert“, triumphierte die Frau, welche er einen Moment später als Shallow McOre erkannte und schlang sich freudestrahlend um den Hals des hageren Mannes, der zu Kols großer Überraschung Oswald Pinel zu sein schien.
„D-danke“, stotterte er und die Flammen zeichneten das Rot auf seinen Wangen in massiver Leuchtkraft ab.
„Was ist hier los?“, stieß Kol atemlos dazu und bekam in einem hastigen Kurzbericht die wichtigsten Details der waghalsigen Rettungsaktion der blauhaarigen Frau serviert.
„Ich konnte einfach nicht tatenlos in der Wohnung bleiben und dann, dann bin ich auf Oswald hier getroffen, der die fabelhafte Idee hatte, dass man die Leute doch in die Mienen meiner Familie bringen könnte. Dort unten ist doch das Lustschloss der vermaledeiten Königin und die Wohnquartiere der Arbeiter. Also haben wir sie durch die alten U-Bahntunnel nach unten geschafft. Bis auf den Westteil sind fast alle Bürger und Bürgerinnen dort unten.“
Nachdem Kol die wichtigsten Bestandteile der Nachricht verstanden hatte, packte er Shallow an den Schultern und verkündete die Hiobsbotschaft, die jegliche Farbe aus ihrem Gesicht weichen ließ.
~ In der Gegenwart ~
„Fragen Sie mich nicht, wie wir es alle damals irgendwie hier runter geschafft haben. Ich habe Charles Winchester in fast letzter Sekunde und als einer der letzten hier runter gebracht, ehe die Bombe explodiert ist....es waren aber noch Dutzende, die es nicht geschafft haben“, erzählte der Polizeiinspektor und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Rebekah betrachtete ihn mit distanziertem Gesichtsausdruck, wobei sie das Gefühl nicht los wurde, dass der Mann vor ihr während der gesamten Geschichte um sichtbare zehn Jahre gealtert war. Lanzelot spielte nervös mit seinen Händen, da er nicht wusste, ob er Abberline tröstend eine Hand auf die Schulter legen sollte. So war es Barceló, der die gesamte Geschichte über nur schweigend zugehört hatte, der die richtigen Worte fand.
„Ich habe von dem Zwischenfall gehört. Das Königreich „Duchess Court“ wurde für den Gebrauch dieser illegalen Waffe aus der Weltregierung verbannt. Dabei stellte sich sogar heraus, dass einige ihrer engsten Vertraute schwere Kapitalverbrecher und Piraten waren, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt war.“
„Illegale Waffe“, schnaubte Abberline und musterete das bärtige Gesichts des Vizeadmirals, „Waren sie schon einmal auf der Oberfläche von Liberty Bourbon? Sind sie durch dieses karge Land gewandelt? Haben sie die Aschefelder mit eigenen Augen gesehen und die Gerippe der toten Stadt? Diese Waffe war ein Hölleninferno! Es hat die Menschen von Innen heraus verbrannt, ihre Knochen pulverisiert und die ganze Oberfläche in die reinste Hölle verwandte. Wir anderen waren unten eingesperrt und zusammen gepfercht wie Tiere, die am Vorhof der Hölle auf ihre Schlachtung warten. Die Hitze unter Tage war grauenvoll. Wir hörten die Schreie derjenigen, die es nicht geschafft haben. Wir alle haben so viel dort oben verloren. Familie, Freunde, unseren Besitz und viele von uns auch ihren Verstand!“
Abberline brach abrupt ab und massierte sich die Schläfen. Rebekah hatte das Gefühl, als wäre der Mann vor ihr immer noch an diesem Ort gefangen und konnte von dort nicht mehr entkommen.
„Warum erzählen Sie uns das alles?“
Er hob den Kopf und bedachte sie mit einem unsagbaren, ausdruckslosen Blick, ehe er Worte fand, die so voller Verzweiflung und Wut waren, dass die ansonsten kühle und reservierte Frau das erste Mal Tränen in den Augen hatte.
„Weil die Marine schon einmal tatenlos dabei zugesehen hat, wie dieses Land und ihre Bewohner Opfer von Verbrechern wurde. Das ganze scheint sich jetzt zu wiederholen!“
„Wie meinen Sie das?“, beugte sich Barceló nun interessiert vor, als Abberline aufgesprungen war und den schweren Aktenordner auf dem Tisch knallen ließ. Ohne zu zögern griffen die schweren Hände danach und wortlos reichte er ihn an Rebekah und Lanzelot weiter.
„Jetzt verraten Sie mir bitte, was die CP8 auf dieser Insel zu suchen hat!!“, sagte Abberline und seine Stimme klang so unmissverständlich gefestigt, dass Barceló, selbst wenn er es anders gewollt hätte, ihm die Antwort nicht hätte verweigern können würde. Er lehnte sich zurück, kratzte sich den dunklen Bart und räusperte sich.
Mit Kapitel 110 geht es hier weiter!
Dieser Beitrag wurde bereits 6 mal editiert, zuletzt von Vex ()